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allem aber: Wer eine Wahrheit, die schon einmal da war, wirklich
unabhängig von seinem Vorgänger entdeckt hat, gibt seiner Entdeckung
ohnehin eine so ursprüngliche, selbständige Art und Gestalt, daß diese
Selbständigkeit auch dann offenbar wird, wenn er sich frei auf seinen
Vorgänger beruft. So hat Fichte seine Philosophie, indem er sie nur als
Folgerung aus rein Kantischen Gedanken ausgab, eher gehoben als
gemindert, denn er hat ihr durch diese Anknüpfung jedenfalls eine
richtige lehrgeschichtliche Stellung gegeben und das Verständnis für sie
erleichtert. Aber noch mehr! Der Welt liegt gar wenig daran, zu wissen,
von wem eine Wahrheit stammt, sie will sie selber kennenlernen und
erproben
1
.
Man braucht einen Vorgänger nicht zu lesen, solange man mit Grund
fürchtet, in seinen eigenen verwandten Gedanken gestört zu werden. Aber
hinterdrein ist es unbedingte Pflicht, diesen Vorgänger kennenzulernen
und mit ihm ins Reine zu kommen. Herrschte volle Übereinstimmung, so
ist es verhältnismäßig nutzlos, der Welt zweimal dasselbe zu sagen (bis auf
die „Weise“, in der dies geschieht). Ergeben sich aber ähnliche Gedanken
von ganz verschiedenen Voraussetzungen her, dann wird man die größte
Vertiefung und Abrundung aus dem Zusammenklang zweier Kräfte
erfahren.
Das Wesentlichste an dieser Sache dürfte aber das sein, daß die
Nichtkenntnis eines bedeutenden Vorgängers an sich ein Schaden wie
zugleich eine Schande für den Verfasser ist — selbst noch in unserer Zeit
des wilden Vordrängens und dreisten Selbermachens!
Wer in der Wissenschaft sein Eigenes sucht statt die Wahrheit, wer
selber sprechen will, statt den Gegenstand durch sich / sprechen zu lassen,
der geht darin auf die Dauer ebenso fehl, wie überall das Unzulängliche im
Leben fehlgeht. Denn erst wer über sich hinausgewachsen ist, kann dem
Großen angehören, erst wer nicht sich selber sucht, kann die Welt
gewinnen. Nichts ist irriger, als das Talent vom Charakter mechanisch
abtrennen zu wollen. Ein kleiner Mensch, und hätte er viele Gaben, kann
nur eine kleine Wahrheit finden. Ein haßerfüllter Mensch kann der Welt
auch nur gehässige Halbwahrheiten geben. Nur eine klare Seele, ein
gottinniger Mensch, wie Novalis, konnte den Schleier zu Sais lüften.
1
Vgl. oben S. 268 f.