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ich ganz weiß und ermesse, was der andere zu sagen hat, kann ich seine
Wahrheiten anerkennen, seine Fehler nachweisen und meine eigene
Stellung verteidigen. Wer die Selbstverleugnung nicht aufbringt, den
Gegner unter Ausschaltung alles eigenen Widerspruches verlangend
anzuhören, ist nicht von jener Art, welche die wissenschaftliche Forschung
erfordert.
G.
Die D e m u t v o r d e m G e g e n s t a n d e u n d v o r d e m
V o r g ä n g e r
Wie zu jedem rechten Werke im Leben, so gehört auch zur Forschung
die rechte sittliche Kraft. Vor den Erfolg haben nicht nur den Schweiß
gesetzt die unsterblichen Götter, sondern auch Selbstbescheidung,
Hingabe, sittliche Reinheit. Manche großen Begabungen (sie ließen sich
mit Namen nennen) sind schon daran gescheitert, daß sie eine zu hohe
Meinung von ihren eigenen Entdeckungen hatten. Wer ein Federchen
aufliest, soll es nicht gleich für einen Goldklumpen halten. Wer einen
glücklichen Einfall hat und etwas Nützliches vorschlägt, soll nicht gleich
die ganze „soziale Frage“, nicht gleich sämtliche Welträtsel damit lösen
wollen. Viel besser wird ihm die Vorstellung dessen, was in seinem
Gedankengebäude n o c h f e h l t , die richtige Einstellung zu seiner
Aufgabe und zur Wissenschaft geben. Die ungeheure Größe des
Gegenstandes selbst ist, die uns Demut auferlegt und uns mit dem
Bewußtsein durchtränkt, wie stückhaft auch der große Gedanke und das
reichste Wissen ist.
Die Probe auf diese Demut zeigt sich in dem Verhalten eines
Verfassers zu seinen Vorgängern. Dieselbe Bescheidenheit, welche der
Gegenstand, welche die Wissenschaft als Ganzes von uns / fordert, fordert
auch das Verhalten gegenüber der Geschichte unserer Wissenschaft. Ein
Zeugnis kleinlichen Talentes ist es, an Vorgängern und Gegnern in allen
Einzelheiten herumzumäkeln. In anderer Form zeigt es sich in den
sogenannten „Prioritätsansprüchen“ besonders deutlich. Heute steht es so,
daß viele sich ihr Erstrecht geradezu erschleichen wollen, indem sie
entweder Vorgänger, von denen man ihnen sagt, daß sie Ähnliches gedacht
haben, absichtlich nicht lesen oder sie sogar verschweigen. Ein solches
Verhalten ist nicht nur albern, sondern auch fruchtlos. Erstens wird selbst
die feinstgesponnene lehrgeschichtliche Lüge einmal aufgedeckt. Vor