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Da die Auflösung des „Lügners“ bisher merkwürdigerweise nicht
gelang (die Aristotelischen Bemerkungen am angeführten Orte tref-
fen ihn nicht ganz), sei noch folgende Zusammenfassung gestattet:
Ebensowenig wie man aus den Sätzen „Das Eisen ist aus Holz“ oder
„Alle Erkenntnis ist keine Erkenntnis (ist unwahr)“ etwas folgern
kann, weil sie einen in sich widerspruchsvollen Begriff entwickeln,
ebensowenig kann man aus dem Satze „Alle Kreter lügen immer“
etwas folgern, weil er den sich widersprechenden Begriff eines stets
Unwahres sagenden, daher auch denkenden Geistes enthält. Aus
dem Begriffe eines denkenden Nichtdenkens, eines geistigen Chaos
f o l g t n i c h t s !
Allgemein gilt: Aus einem sich widersprechenden Begriffe, einer
contradictio in adjecto, f o l g t n i c h t s .
Das Meisterhafte am Trugschlusse des „Lügners“, das, was ihn,
formal-logisch gesehen, zur „Krone der Trugschlüsse“ macht, ist nun
die V e r s c h l e i e r u n g des Widersprechenden im Begriffe des
„Lügens“. Man denkt dabei nur an das fallweise Lügen, nicht aber
an das unaufhörliche Lügen, nicht an die Z e r s t ö r u n g des Gei-
stes, nicht an die S e l b s t a u f h e b u n g d e s B e g r i f f e s
e i n e s L ü g n e r s , die darin liegt, daß, wer i m m m e r l ö g e ,
k e i n d e n k e n d e s W e s e n m e h r w ä r e ; ebensowenig wie
ein „hölzernes Eisen“ noch ein stoffliches Ding oder / eine „vier-
eckiger Kreis“ noch eine geometrische Figur wäre.
Die herkömmliche Fassung des „Lügners“ in den Logikbüchern muß als fehler-
haft, eigentlich als sinnlos bezeichnet werden, indem die Behauptung angeblich
lautet: „Alle Kreter sind Lügner, sprach ein Kreter“. — Daraus folgt aber, wie
bemerkt, streng logisch genommen gar n i c h t s für die Frage, ob dieser Kreter
(Epimenides) in dieser Behauptung lüge oder nicht! Denn ein teilweiser Lügner
wird ja immer wieder auch die Wahrheit sagen. Erst durch den Zusatz „ i m -
m e r “ , „die Kreter lügen immer“, erhält Epimenides die Eigenschaft seiner Gat-
tung (der Kreter), zu lügen; erst durch diesen Zusatz folgt nach der ersten Figur
der Schluß: „S ist P“, „er lügt“ (wie oben deutlich gemacht).
Wenn nun gar Logiker es fertig brachten, zu behaupten, hier läge eine ganz
gemeine quaternio terminorum, eine Zweideutigkeit des Wortes „lügen“ vor (so
Külpe: „ ... sind Lügner“ bedeute nur einen „Hang zum Lügen“, die „potentielle“
Lüge, daß Epimenides log, aber eine „aktuelle“ Lüge) — dann fragt man sich,
wo die Fähigkeit, logisch zu denken, bei jenen bleibe, die sich veranlaßt sehen,
ein Lehrbuch der Logik zu schreiben.
Kurz, das Beiwort „immer“ ist eine unentbehrliche Voraussetzung dafür, daß
aus der Behauptung überhaupt etwas gefolgert werden könne. Die Lösung des
Aristoteles (Soph. el. 180 a und 180 b), daß einerseits Wahrheit, andererseits Lüge
vorliege, wird den syllogistischen Notwendigkeiten (auf b e i d e s zu schließen)
nicht gerecht.
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