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Zu bedenken ist endlich, daß schon im Begriffe der Lüge über-
haupt etwas Widersprechendes angelegt ist; aber nicht im Sinne der
schöpferischen Dialektik Heraklits und Hegels, vielmehr im Sinne
des C h a o t i s c h e n ! Denn was n i c h t w a h r h a f t i g i s t ,
v e r s t ö ß t g e g e n d i e E i n e r l e i h e i t m i t s i c h
s e l b s t , damit aber auch gegen die richtige Gliedhaftigkeit, Mit-
gedachtheit! Dadurch aber werden die Grundlagen des Denkens zer-
stört. Aus S ä t z e n c h a o t i s i e r t e n D e n k e n s f o l g t
n i c h t s , was im Widersprechenden solcher Beispiele wie „Epi-
menides der Kreter“ zum Ausdruck kommt.
/
Daraus versteht man, daß nicht Begabung, Scharfsinn allein zu
wissenschaftlicher und philosophischer Forschung genügt, sondern
die reine Hingabe an die Wahrheit oberste Vorbedingung bleibt.
Große Gedanken werden in einem hingebungsvollen Gemüte er-
weckt.
1.
Der Krokodilschluß (κροκοδειλίτης)
Diesen schon den Stoikern zugeschriebenen Trugschluß stellen wir
zweckmäßigerweise dem „Lügner“ gegenüber, da es sich hier nicht
um einen Fehler handelt, der im Obersatze tief verborgen ist, son-
dern um eine im Grunde plumpe Verdrehung.
Das sogenannte Krokodildilemma lautet
1
: Ein Krokodil raubt
einer Frau ihr Kind. Auf die flehentliche Bitte, ihr das Kind wie-
derzugeben, sagt das Krokodil dies zu, wenn die Frau eine ihr vom
Krokodil zu stellende Frage richtig beantworte. Darauf fragt das
Krokodil: Werde ich dir dein Kind wiedergeben? In ihrer Angst
sagt die Mutter: Nein. Gut, sagt das Krokodil, dann erhältst du dein
Kind keinesfalls wieder. Hast du die Wahrheit gesagt, so heißt das
soviel als ich behalte dein Kind; war deine Antwort aber falsch, so
bin ich nach unserer Übereinkunft zur Rückerstattung nicht ver-
pflichtet. Die Mutter erwidert: Im Gegenteile, ich muß das Kind auf
jeden Fall bekommen. Habe ich richtig geantwortet, laut unserer
Übereinkunft; habe ich falsch geantwortet, so ist das Gegenteil
* V,
1
Wir folgen hier im Wortlaute Benno Urbach: Über das Wesen der logischen
Paradoxa, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, Bd 140,
Halle 1910, S. 92. Vgl. Lucianus: Vitarum auctio, 22; Aulus Gellius: Noct. attic.
V, 10 f.