[353/354/355]
251
sich haben! Wie ist das zu erklären? Hauptsächlich durch die gleich-
zeitig vielfache Gliedhaftigkeit des Gegenstandes! Die durch Vor-
liebe und dergleichen willentlich in den Vordergrund gerückten Tat-
sachen und Zusammenhänge bestehen nämlich wirklich, und zwar
g l e i c h z e i t i g mit anderen, allerdings wesentlicheren. So z. ß.
kann der Techniker einen Begriff einer bestimmten Brücke vom
Standpunkte des Bau- / gefüges und der Festigkeit, der Künstler
vom Standpunkte der Schönheit, der Volkswirtschaftler vom Stand-
punkte ihrer Leistungen für verschiedene Wirtschaftszweige (welche
wieder für die benützenden Fabriken, Landwirtschaften, Behörden
und so fort je nach deren Standort verschieden ausfallen können)
aufstellen. Alle diese Begriffe der Brücke können in ihrer Weise
richtig sein. Wenn aber der Techniker, Künstler und so fort den
seinen je für den alleinigen hält, i r r t e r : Die gleichzeitig viel-
fache Gliedhaftigkeit der Brücke erfordert die Berücksichtigung und
die Inverhältnissetzung dieser Gliedhaftigkeiten zueinander. Der
Begriff der Brücke muß sie alle umfassen und als Gesamtganzes in
eine höhere Einheit vereinigen. Je mehr die Willenseinstellung des
Forschers nur e i n e bestimmte Gliedhaftigkeit, einen bestimmten
Zusammenhang in den Vordergrund rückt oder gar ausschließlich
gelten läßt, entwickelt er einen i r r t ü m l i c h e n L e h r b e -
g r i f f , eine falsche Lehrmeinung, die aber gleichwohl auf i n
s i c h r i c h t i g e n Denkzusammenhängen (und einer ihnen ent-
sprechenden, an Teilbeständen haftenden Eingebung) beruht.
Dies ist der Fall aller Irrlehren in der Geschichte, namentlich der
Geistesgeschichte! Ein klassisches Beispiel dafür sehen wir im Ma-
t e r i a l i s m u s , welcher ja durchaus einen wahren Zusammen-
hang der Dinge, die vielfache Unentbehrlichkeit stofflicher Voraus-
setzungen für geistiges Geschehen, zum Gegenstande hat. Indem er
aber ausschließlich das Stoffliche, das bei geistigen Erscheinungen
beobachtet wird, ins Auge faßt, mit einem Worte das Geistige aus
dem Stofflichen erklärt und so als Geistiges in seiner Selbständigkeit
leugnet, wird er zum falschen Lehrbegriffe, zur Irrlehre. Schwerlich
kann man glauben, daß dem nur ein Beobachtungsfehler zugrunde
liege! Betrachtet / man z. B. den Siegeszug des Materialismus im
Frankreich der großen Revolution und im nachhegelischen Deutsch-
land, so findet man seine Gründe eindeutig in bestimmten W i 1 -
l e n s e i n s t e l l u n g e n : Teils war es das Vertrauen auf die un-