Table of Contents Table of Contents
Previous Page  7689 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 7689 / 9133 Next Page
Page Background

[393/394/395]

279

begriffes sowie der systematischen Grundbegriffe der Naturwissen-

schaften macht es auch verständlich, warum die S i n n e s e r f a h -

r u n g in den Naturwissenschaften eine größere Rolle spielen muß

als in den Geisteswissenschaften. Unentbehrlich ist sie in beiden,

aber in den geistes- und ganzheitsfernen Gebieten mehr als dort,

wo der Geist bei sich selbst ist.

d. Die g e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e B e g r i f f s b i l d u n g

Die Frage der geschichtswissenschaftlichen Begriffsbildung stand

von je unter dem Dilemma, daß einerseits der Begriff, wie schon

Aristoteles sagte, seinem Wesen nach auf das Allgemeine gehe, All-

gemein- / begriff sei; andererseits aber die Geschichtswissenschaft auf

Begriffen von Einmaligem, Individuellem, Singularem wie z. B.

Homer, Goethe, Karl dem Großen beruht. Der Singularbegriff ist

dann eigentlich eine contradictio in adjecto, wenn der Begriff sei-

nem Wesen nach auf das Allgemeine geht. Manche zogen daraus die

Folgerung, die Geschichte sei keine Wissenschaft, sondern eine Kunst.

Erst seit der berühmten Rektoratsrede Windelbands und den

darauf fußenden Arbeiten Rickerts trat hier eine Wendung

ein

1

. Windelband unterschied zwischen „nomothetischen“ und

„idiographischen“ Begriffen. Erstere sind die Gesetzesbegriffe,

am vollkommensten dargestellt durch die mathematische Physik,

letztere die Eigentümliches, Einmaliges (von iöioc;, eigen) zum Ge-

genstande habenden Begriffe der Geschichtswissenschaft. Glücklich

bezeichnete später Rickert das als „Grenzen der naturwissenschaft-

lichen Begriffsbildung“, da hier zum ersten Male die Naturwissen-

schaft als mit ihren Begriffen nicht alles erfassende Wissenschaft er-

klärt wurde. Die Laplacesche Weltformel wollte ja auch die Ge-

schichtsvorgänge in den mathematischen Gesetzesbegriff mit einbe-

ziehen! Das Geschehen sollte allgemein gesetzlich sein, nur die An-

fangs- und Randwerte sollten das Konkrete, Singuläre ergeben.

Die idiographischen Begriffe (früher Singular- oder Individual-

begriffe genannt) sollten nun dadurch zu- / stande kommen, daß

1

Wilhelm Windelband: Geschichte und Naturwissenschaft, Rede zum Antritt

des Rektorats der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg, Straßburg 1894. Hein-

rich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 2 Teile

(1896 und 1902), 4. Aufl., Tübingen 1921.