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„War umbe ist got mensche worden? Dar umbe daz ich got geborn würde
der selbe."
1
Es ist der e r n s t e s t e G e d a n k e E c k e h a r t s , die Seele
habe ihrem reinen Wesen nach göttliche Schöpferkraft, jene, in
welcher der Gedanke auch schon das gedachte Ding schafft. Denn
die Seele ist göttlichen Geschlechtes. Die deutlichste, wichtigste
Äußerung hierüber findet sich im alten Baseler Druck:
„Mich wundert (und dies Wunder hat mich lange bekümmert), daß die Seele
nicht also ein kräftiges Wort aussprechen mag wie der himmlische Vater. Die
Meister sprechen, es sei davon, daß, was in Gotte ist, das sei Gotte wesentlich, in
der Seele aber bildlich, und darum möge die Seele nicht Gotte gleichen an ihren
Werken. Diese Rede halte ich nicht für wahr. Denn ... (überlegt man), so ist
die Seele w e s e n t l i c h nach Gotte gebildet. — Andere Meister sprechen: Was
Gott ist, das hat er alles von ihm selber, aber was die Seele hat, das hat sie
empfangen und davon mag sie Gotte nicht gleichen an seinen Werken. Diesem
widerspreche ich aber allzumal. Denn der Sohn hat auch empfangen vom Vater
alles, das er ist, und wirket doch gleich dem Vater ... Es ist eine andere Rede
(das ist ein anderer Grund), die die Seele hindert; an d i e s e r l a s s e i c h
m i c h e i n w e n i g g e n ü g e n . Das ist, daß der Sohn (Christus) ist geflos-
sen aus der Person des Vaters und ist (zugleich) in ihm geblieben w e s e n t -
l i c h , und darum vermag er wesentlich und persönlich alles, das der Vater
vermag; die Seele aber ist ausgeflossen von den Personen und nicht (rein) im
Wesen geblieben. Mehr, sie hat ein F r e m d e s (das ist ein ungleiches) W e s e n ,
das vom göttlichen Wesen (nur) geursprungt ist.“
2
Nach Eckehart ist es demnach nur das f r e m d e , k r e a t ü r -
l i c h e W e s e n , welches die Seele in der Welt annahm, was sie
von ihrem göttlichen Vermögen trennt, — ein Gedanke, der in
seiner Größe nur gewürdigt werden kann, wenn man die letzte
Spur materialistischen Denkens abstreift! —
Das kommt auch in einer deutschen Predigt bei Pfeiffer zum Aus-
drucke:
„... der himel fliuzet in sî .. . unde machet sî fruhtber,... Alsô tuot got dem
menschen: der ime wênet enpfliehen, er loufet ime in die schôz, wan im sint alle
winkele offen. Got gebirt sînen sun in dir, ez sî dir lieb oder leit, du slâfest
oder wachest, got tuot daz sîne. Daz der mensche des niht bevîndet, daz ist des
schult, daz sîn Zunge mit dem unflâte der crêatûren ist belîmet und des salzes
gotlîcher minnen niht enhât. Hêten wir die gotlîche minne, sô smahte uns got
und alliu diu werk, diu got ie geworhte, und enpfiengen alliu dinc von gote
1
Pf. 233, 35: Warum ist Gott Mensch geworden? Darum, daß ich als derselbe
Gott geboren werde.
2
Hans Martensen: Meister Eckhart. Eine theologische Studie, Hamburg 1842,
S. 29.