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unde worhten alliu diu selben werk, diu er würket. In dirre glîcheit sîn wir alle
ein einig sun.“
1
Eckehart hält an der göttlichen Schöpferkraft, welche der Seele
von Natur zukommt, fest. Schuld an ihrer Schwächung ist „der Un-
flat des Kreatürlichen“. Er ist es, der uns von Gotte entfremdet und
uns der göttlichen Minne, die uns sonst zukäme, beraubt.
Um so größere Bedeutung kommt der Wiedergeburt zu, sie ist,
wie in jeder Mystik, das eigentliche W e r d e n d e r S e e l e hie-
nieden:
„er würket, und ich gewirde.“
2
„Daz würken unde daz werden daz ist ein.“
3
Die Einbildung der Seele in Gott ist zugleich ein V o r v e r -
k o s t e n d e r S e l i g k e i t :
„Niemals kann man von der Seligkeit [vorverkostet in der Wiedereinbildung]
so viel denken und glauben, als sie wirklich ist.“
4
„Nû lose wunder, welich wunderlich! stân ûze und inne, begriffen und um-
begriffen werden, sehen unde sîn diu, gesiht, enthalten und enthalten werden, daz
ist daz ende, dâ der geist beîbet mit ruowe in einikeit der lieben êwikeit.“
5
Der von Gott erfüllte Mensch lebt auf Erden schon wie im
Himmel:
„. . . waz Wunders unde waz lebennes hât der mensche ûf der erden als in
dem himele in gote selben!“
6
„Denn wer dazu (zur mystischen Einung) kommt, der fragt nicht, er hat ge-
funden das Himmelreich und das ewige Leben auf Erden.“
7
1
Pf. 287, 35: Der Himmel fließt in sie (die Erde) und macht sie fruchtbar,.. .
So verfährt Gott mit dem Menschen: der wähnt Gott zu entfliehen und läuft
ihm in den Schoß, denn ihm sind alle Winkel offen. Gott gebiert seinen Sohn
in dir, es sei dir lieb oder leid, ob du schläfst oder wachst; Gott tut das Seine.
Daß der Mensch das nicht empfindet, daran ist schuld, daß seine Zunge mit dem
Schmutz der Kreaturen beklebt ist und das Salz der göttlichen Liebe nicht hat.
Hätten wir die göttliche Liebe, so schmeckte uns Gott und alle Werke, die Gott
je wirkte, und wir empfingen alle Dinge von Gott und wirkten alle dieselben
Werke, die er wirkt. In dieser Gleichheit sind wir alle ein einiger Sohn.
2
Pf. 206, 15: Er wirkt und ich werde.
3
Pf. 206, 12: Das (göttliche) Wirken und das Werden, das ist eins.
4
B 197.
5
Pf. 51, 6: Lausche denn auf das Wunder! Wie wunderbar: draußen stehn
wie drinnen, begreifen und umgriffen werden, schauen und (zugleich) das Ge-
schaute selbst sein, halten und gehalten werden — das ist das Z i e l , wo der
Geist in Ruhe verharrt, der lieben Ewigkeit vereint.
6
Pf. 426, 33: ... was an Wunder und an Leben der Mensch auf Erden wie im
Himmel in Gott selber hat!
7
Theologia Deutsch, herausgegeben von Willo Uhl (= Kleine Texte für Vor-
lesungen und Übungen, herausgegeben von Hans Lietzmann, Nr. 96), 1912, VIII,
13, 38.