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niemer nieman funden hân; nû hêt er sich vermeldet. Ein heilig sprichet: ,ich
enpfinde etwenne sölicher süezekeit in mir, daz ich mîn selbes und aller crêatûre
vergizze. . . Unde sô ich ez zemâle wil umbevâhen, herre, sô nimest dû mirz.
Herre, waz meinest du da mite? ... Owe, herre, daz tuost dû dar umbe, daz ich
dîn vil enpfâhen müge. . . . Herre, da kan ich niemer geruowen danne in dir
und ist mir nienâ wol danne in dir.“
1
Eine Verbindung mit der Sittenlehre liegt endlich auch in der
Frage, wie die Seele s i c h b e r e i t e n soll, um sich zu jener höch-
sten Lauterkeit zu bilden und über sich selbst hinauszukommen?
(Wobei wir von bestimmten Übungen hierzu noch absehen.) Der
Weg zu diesem Ziele ist innere Abgeschiedenheit. Von ihr werden
wir aber erst in der Sittenlehre zu sprechen haben.
„Diu sêle, diu got minnet unde der er sich gemeinen sol, diu muoz sô gar
enbloezet sîn von zîtlicheit unde von allem gesmacke der crêatûren, daz got in
ir smacke nach sînem gesmacke.“
2
„Nicht durch Hinzufügen, sondern durch Abziehen wird Gott in der Seele
gefunden.“
3
„Wie wirt got alle zit in dem menschen geborn? Daz merket. Swenne der
mensche enbloezet und endecket daz götlîche bilde, daz got in nâtiurlich ge-
schaffen hat, so wirt gotes bilde in im geoffenbâret. ... Unde dar umbe, so der
mensche ie mêr unde klêrlîcher gotes bilde in im enbloezende ist, so got ie
klêrlîcher in ime geborn wirt.“
4
„Sol diu sêle got erkennen, sô muoz si in erkennen oben zit und oben stat;
want got enist weder diz noch daz, ... want got ist ein. Sol diu sêle got sehen,
1
Pf. 301, 5: Wo ist dieser Gott, dem alle Kreaturen nachjagen, von dem sie
ihr Sein und ihr Leben haben? (Ich rede gerne von der Gottheit, denn alle unsere
Seligkeit fließt von da aus.) . . . Wo ist dieser Gott? ,In der Fülle der Heiligen bin
ich umfangen“ (Jes. Sir. 24, 16). Wo ist dieser Gott? In der Ewigkeit. Niemand hätte
je Gott finden können, wie der Weise sagt: ,Herr, du bist ein verborgener Gott“
(Is. 45, 15). Wo ist dieser Gott? Recht, wie sich ein Mensch verbirgt, sich dann
aber räuspert und sich damit selbst verrät, so hat auch Gott getan. Niemand
hätte je Gott finden können; nun aber hat er sich selbst verraten. Ein Heiliger
spricht: Ich empfinde mitunter solche Süßigkeit in mir, daß ich mich selbst und
alle Kreaturen vergesse .. . Wenn ich’s aber ganz umfangen will, Herr, da nimmst
du mir’s. Herr, was meinst du damit? . .. Ach, Herr, das tust du, damit ich endlich
viel von dir empfangen kann! .. . ,Herr, ich kann nimmer ruhen in dir, und mir
ist nirgends wohl denn in dir“ (Ps. 15, 2)!.
2
Pf. 230, 17: Die Seele, die Gott liebt und der er sich vergemeinsamen soll,
die muß so gar entblößt sein von Zeitlichkeit und allem Geschmacke der Krea-
turen, daß Gott in ihr nach seinem eigenen Geschmacke schmecke.
3
B 113.
4
Pf. 198, 13: Auf welche Weise wird Gott in dem Menschen jederzeit neu
geboren? Merket euch: Wenn der Mensch das göttliche Bild, das Gott auf natür-
liche Art in ihn gelegt hat, entdeckt und bloß legt, da offenbart sich ihm Gottes
Bild. . .. Daher, je mehr und je reiner Gottes Bild in ihm aufsteigt, umso reiner
ist die Gottesgeburt in ihm.