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„sie lebent in dirre weite, als ob nieman sî denne sie und got alleine.“

1

Eine kostbare, im tiefsten Leben der Seele bestätigte Wahrheit

spricht der Meister aus, welche im Zusammenhange der Gesellschafts-

lehre in Gestalt der geistigen „Gezweiung“ wieder erscheint:

„Ich sage, daz in dem rîche der himel al in al ist und al ein und al unser . . .

swaz dâ einer hat, daz hat der ander, unde niht als von dem andern noch in dem

andern, mêr: als in ime selben,. . .“

2

Nach allem ist es unumstößlich: Die Gottesgeburt in der Seele ist

das Endziel des menschlichen Lebens; und noch mehr: Gottes selbst!

„alle die gâbe, die er gegeben hat in himel und ûf erden, die gab er alle dar

umbe, daz er e i n e gâbe geben möhte: daz was er selber.“

3

„Gott wirkte alle seine Werke darum, daß wir der eingeborene

Sohn seien.“

II. Verbindung mit der Sittenlehre

Die letzten Worte machen die Verbindung deutlich sichtbar, die

von der Lehre der mystischen Einigung zur Sittenlehre hinüber-

führt. Denn das rechte Leben hat nur dieses eine Endziel.

Als Endziel des Lebens erweist sich die Gottesgeburt in der Seele

auch dadurch, daß alle Kreaturen Gott suchen und ihm nachjagen.

Diesem Gedanken aller Mystik, der auch altindisch, platonisch,

aristotelisch, augustinisch genannt werden könnte, wenn er nicht

zugleich ur-eckehartisch wäre, hängt der große Meister mit beson-

derer Glut oft und innig nach:

„.. . wâ ist dirre got, dem alle crêatûren nach jagent, dâ von sie ir wesen und

ir leben habent? (Ich spriche gerne von der gotheit, wan alle unser sêlikeit

dannân ûze vliuzet.) . . . Wâ ist dirre got? In der vollidi der heiligen dâ bin ich

bevangen. Wâ ist dirre got? In dem vater. Wâ ist dirre got? In der êwikeit. Got

möhte niemer niemand funden hân, als der wîse sprichet ,herre, du bist ein ver-

borgen got?‘ Wâ ist dirre got? Reht als sich ein mensche verbirget, so rünstert er

sich unde vermeldet sich selber dâ mite, also hât ouch got getân. Got künde

1

Pf. 483, 22: Sie (die Mystiker) leben in dieser Welt, wie wenn niemand

existiere als nur Gott und sie alleine. — Der Traktat VIII ist geklittert, die

Stelle vielleicht nicht echt, aber mindestens bezeichnend für die Schule Ecke-

hartens. Vgl. mein Buch: Gesellschaftslehre, 3. Aufl., Leipzig 1930 [4. Aufl.,

Graz 1969],

2

Pf. 39, 35: Ich sage: Im Reiche der Himmel ist alles in allem und alles eins

und alles unser. . . . Was dort einer hat, das hat (auch) der andere und (zwar) nicht

als von dem andern oder in dem andern, sondern als in ihm selbst (seiend).

3

Pf. 569, 38: Alle Gabe, die er je im Himmel und auf Erden gab, die gab er

alle darum, daß er e i n e Gabe geben könnte, nämlich sich selber.