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Hier spricht sich, so hat man es wohl aufzufassen, Meister Ecke-
hart geradewegs gegen die in religiösen Kreisen auch heute noch
bekannten Übungen des „Wandels“ in der ständigen Gegenwart
Gottes aus (bestehend im steten bewußten Denken daran). Um so
mehr müssen wir daraus folgern, daß er auf andere, von ihm ge-
lehrte Verfahren hindeute, ohne sie aber zu verraten.
Im Anschlusse an die soeben angeführte Stelle zieht Eckehart den
Vergleich mit einem Durstigen: „ime vergêt doch daz bilde des tran-
kes niht, die wîle der durst wert;“
1
so soll dem Menschen auch das
Bild Gottes nicht vergehen (er muß nicht bewußt daran denken!).
Auch das scheint ein Hinweis auf eine bestimmte Übungsweise zu
sein. Auf eine Übung der S a m m l u n g deutet klar die folgende
Stelle bei Pfeiffer:
„fliuch unde verbirg dich von dem stürme inwendiger gedenke .. .“
2
„Got enbedarf niht mê dan daz man ime ein ruowic herze gebe: . . .“
3
.
Und die folgende, zugleich gegen weltflüchtig-asketische Übungen
gerichtete Mahnung scheint das Obige zu bestätigen:
„. .. hie zuo gehoeret flîz unde minne und ein wol warnemen des menschen
inwendikeit und ein wacker war vernünftic würklich wizzen, war ûffe daz
gemüete stê in den dingen unde bî den liuten. Sus mac der mensche niht geler-
nen mit fliehen, daz er diu dinc fliuhet unde sich an die einoede kêret von
ûzwendikeit, sunder er muoz ein innerlich einoede lernen, ... Er muoz lernen
diu dinc durchbrechen unde sînen got dar inne nemen ... glîcher wîse, als einer,
der da wil schrîben lernen. Triuwen, sol er die kunst kunnen, er muoz sich vil
unt dicke an den werken üeben,. . . zem êrsten muoz er haben ein andenken eins
ieglichen buochstaben . . . Dar nach so er nû die kunst hat, so wirt er . . . ledic des
andenkens, .. . Und ob er sî âne stêtez angedenken, swaz er joch denke, den-
am Gemüt und an einer innigen, geistigen Hinwendung und Strebung zu Gott,
nicht (dagegen) an einem beständigen, gleichmäßigen Darandenken, denn das
wäre der Natur unmöglich . . . und ist zudem nicht das Allerbeste. Der Mensch
soll sich nicht genügen lassen an einem gedachten Gott; denn wenn der Gedanke
vergeht, so vergeht auch der Gott. Man soll vielmehr einen wesenhaften Gott
haben, der weit erhaben ist über den Gedanken ... Der Gott vergeht nicht, der
Mensch wende sich denn mit Willen ab.
Wer Gott so im Wesen hat, der nimmt Gott göttlich, und dem leuchtet er in
allen Dingen; denn alle Dinge schmecken ihm nach Gott, und Gottes Bild wird
ihm aus allen Dingen sichtbar. In ihm glänzt Gott allezeit, in ihm vollzieht sich
eine loslösende Abkehr und eine Einprägung seines geliebten, gegenwärtigen
Gottes.
1
Pf. 549, 2: Ihm vergeht doch die Vorstellung des Trankes nicht, solange der
Durst währt.
2
Pf. 153, 9: Fliehe und verbirg dich vor dem Gestürm innerer Gedanken.
3
Pf. 153, 12: Gott bedarf nichts mehr, als daß man ihm ein ruhiges Herz
schenke.