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halt, von dem Gesammelten
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, die E i n h e i t v o n d e r i n i h r
v e r b o r g e n e n F ü l l e !
Bezeichnen wir mit einem Aristotelischen und Fichtischen Begriffe
diese Sammlung, dieses Einstehen und Einsitzen als S e l b s t -
d e n k e n , S e l b s t b e t r a c h t u n g G o t t e s , so wäre nach
Eckehart das Sichselbstbetrachten oder Selbstdenken Gottes zu-
g l e i c h die Erschaffung der Ideenwelt in Gott und auch der
äußeren Welt und der Seele! Man kann also in bedingtem Sinne
diese Lehre auch a r i s t o t e l i s c h nennen
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; aber darüber kann
kein Zweifel sein, daß die letzte Quelle für diese seine Schöpfungs-
lehre nicht in Aristoteles, sondern in ihm selbst liege. Zur begriff-
lichen Bestimmung hat vielleicht Aristoteles beigetragen, aber —
warum kamen nicht andere Aristoteliker, die in jener Zeit
herrschten, auf dieselbe Schöpfungslehre? Bei Thomas z. B., dem
klassischen Aristoteliker christlicher Prägung, findet sie sich nicht.
Gott wird hier nur als erste Ursache der Dinge, als Schöpfer aus
dem Nichts schlechthin usw. erklärt — was Eckehart alles voraus-
setzt, wovon er aber weiter fortschreitet!
Verweilen wir noch bei dem wichtigen Punkte, daß das „Ein-
stehen Gottes in sich selber“ z u g l e i c h die Erschaffung der Welt
sei. Eckehart schließt daran weitere Gedanken:
„Ich spriche: got ist alzemâle ein, er bekennet niht denne sich alleine. G o t
k u n d e s i c h n i e m e r b e k e n n e n , e r e n b e k a n d e d a n a l l e
c r ê a t û r e . Got gebirt sich alzemâle in sînem sune, er s p r i c h e t a l l i u
d i n c i n i m.“
3
„Got gesprach nie kein wort mê dan einz unde daz ist ime sô lustlîch, daz er
niemer kein ander gesprechen wil. Unde lieze got diz wort sprechen abe als
lange als ein ougenblic, h i m e l u n d e r d e m ü e s t e v e r g e n.“
4
Diese letzten Worte: „Himmel und Erde müßten vergehen“, zei-
gen besonders deutlich und unwiderleglich, daß für Eckehart die
1
Vgl. mein Buch: Philosophenspiegel, Die Hauptlehren der Philosophie be-
grifflich und geschichtlich dargestellt, 2. Aufl., Wien 1950 [3. Aufl., Graz 1970],
2
Aristoteles: Metaphysik XII.
3
Pf. 254, 15: Ich sage: Gott ist völlig Eins; er erkennt nur sich allein.
G o t t k ö n n t e s i c h n i e m a l s e r k e n n e n , e r k e n n t e e r n i c h t
a l l e ( s e i n e ) G e s c h ö p f e . Gott gebiert sich vollständig in seinem Sohn;
er s p r i c h t a l l e D i n g e i n s e i n e m S o h n .
4
Pf. 100, 27: Gott sprach kein Wort als stets nur eines; und dieses ist so
lustvoll, daß er nimmer ein anderes sprechen will. Und hielte Gott mit dem
Sprechen dieses Wortes auch nur einen Augenblick ein, H i m m e l u n d E r d e
m ü ß t e n v e r g e h e n .