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inneblîbende ist, dâ sol diu sêle sîn ein b i w o r t und mit gote würken ein
werc, .. .“
1
.
Wird die Seele in diesem Sinne als Beiwort verstanden, dann er-
scheint jener Einwand, daß sie schon vor der Gottesgeburt (in ihr)
da sein müsse, nicht mehr triftig:
„In der geburt (Gottes in der Seele) wirt si lebendic unde gote gebirt sînen
sun in die sêle, daz si lebendic werde. Got sprichet sich selber ... In dem
Spruche, dâ er sich selber sprichet in sich selber, in dem s e l b e n s p r i c h e t
e r s i c h i n d i e s ê l e.“
2
Ihr wahres Leben erlangt, ihre Bestimmung erfüllt die in die
Welt getretene Seele allerdings erst durch die hienieden vollzogene
Geburt Gottes in ihr:
„Der alsus krefteclichen begriffen wêre in disem liehte, der wêre als vil
edeler wider eime anderen menschen als ein lebender mensche wider eime, der
g e m â l e t i s t a n d e r w a n t.“
3
Dies ist eines der stärksten Worte Meister Eckeharts. Der an die
Wand Gemalte hat gleichsam nur ein Scheinwesen, erst der inner-
lich Erleuchtete erlangt die Fülle des Wesens. Die Gottesgeburt ge-
schieht nur in der menschlichen Seele — daher besteht ein ungeheu-
rer U n t e r s c h i e d z w i s c h e n d e r S e e l e u n d d e n
a n d e r e n G e s c h ö p f e n :
„Got ist in allen dingen weselich, würkelich, gewalteclich. Aber er ist alleine
geberende in der sêle, wan alle crêatûre sint ein f u o z s t a p f e gotes, aber diu
seêe ist natiurlich nach gote gebildet. (Der Geburt Gottes) enist dekein crêatûre
enpfenclich denne diu sele alleine.“
4
„Got machet alle crêatûre in eime Spruche, aber daz diu sele lebendic werde,
dar zuo verzeret er alle sîne kraft . . . “
5
1
Pf. 272, 11: Gottes Seligkeit liegt im Einwärtswirken der Vernunft, wo das
„Wort“ innebleibend ist. Dort soll die Seele ein „Beiwort“ sein und mit Gott
ein (das ist: das eine) Werk wirken.
2
Pf. 254, 25: Bei der Geburt Gottes in der Seele wird diese erst lebendig;
(denn) Gott gebiert seinen Sohn in die Seele, damit sie lebendig werde. Gott
spricht sich selber ... In diesem Spruche, da er sich selber in seinen Sohn spricht,
in diesem Spruche spricht er (auch) in die Seele.
3
Pf. 87, 24: Derjenige, der derart kraftvoll zu diesem Licht gelangt ist, wäre
um so vieles edler einem anderen (gewöhnlichen) Menschen gegenüber, wie ein
lebendiger Mensch gegenüber einem, der an die Wand gemalt ist.
4
Pf. Il, 6: Gott ist in allen Dingen wesenhaft, wirkend, gewaltig. G e b ä -
r e n d aber ist er nur in der S e e l e , denn alle Geschöpfe sind ein F u ß -
s t a p f e n Gottes, die Seele aber ist naturhaft nach Gott gebildet. Für diese
Geburt ist keine Kreatur empfänglich als einzig die Seele.
5
Pf. 254, 23: Gott schafft alle Kreaturen in einem Spruch; damit aber die
Seele lebendig werde, wendet er alle seine Kraft an.