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„Got hat alle dise welt geistlich gemachet in einem ieglîchen engel, ê disiu
welt gemachet würde, in im selber.“
1
„Waz
got
geschepfen
mac,
daz
treit
der
engel
in
sich.“
2
In dieser Engellehre folgt Eckehart seiner Zeit und dem Pseudo-
Dionysios Areopagita, auf den er sich auch beruft
3
. Ob diese und
ähnliche Äußerungen, sie ließen sich leicht vermehren, in eine frü-
here Zeit fallen und Eckehart erst später alle Folgerungen aus seiner
Lehre vom Adel der Seele zog, wie sie namentlich in der 56. Pre-
digt bei Pfeiffer ausgesprochen ist — das wird sich nicht leicht ent-
scheiden lassen. Da aber gerade in der 56. Predigt, wie aus dem
oben Angeführten zur Genüge hervorgeht, der Eindruck eines
n e u e n , gewaltigen Erlebnisses erweckt wird, das darin seine Deu-
tung fand, so erleichtert uns das die Annahme, die Lehre von der
Weltschöpfung mittels der Engel gehöre einer f r ü h e r e n Zeit an.
Es ist aber auch nicht von der Hand zu weisen, daß Eckehart
beide Lehren nicht als unvereinbaren Widerspruch ansah; worauf
unter anderen eine Stelle bei Pfeiffer deutet. Es heißt dort, daß die
Engel in ihrer Erleuchtung über sich hinaus klimmen,
„so glich (werden sie Gott), daz sie würkent gotlich werc.“
4
B. S c h ö p f u n g d u r c h d i e S e e l e
Entgegen der Engellehre, wonach Gott durch die Engel die Welt
schaffe, lehrt Eckehart in seinen reifsten Predigten und Schriften die
Erschaffung der Welt mittelst der Seele. Darüber äußert er sich oft
genug in unzweideutiger Weise:
„Got ist in allen dingen, aber als got götlich ist und als got vernünftig ist,
so ist got niendert als eigenlich als in der sêle,. ..
Da diu zit nie in enkam, dâ nie bilde in geliuhte, in dem innigesten und in
dem hoehsten der s ê l e s c h e p f e t g o t a l l e d i e w e i t . Allez daz got
beschuof,.. . daz schepfet got in dem innigesten und in dem hoehsten der sêle
.. . Der vater gebirt sînen sun in dem innigesten der sêle unde gebirt dich mit
sime eingebornen sune, niht minner. Sol ich sun sin, sô muoz ich in dem selben
wesen sun sin, da er sun inne ist, und in keinem andern.“
5
1
Pf. 111, 1: Ehe diese Welt in sich selbst geschaffen wurde, hat Gott diese
ganze Welt g e i s t i g in einem jeglichen Engel geschaffen.
2
Pf. 316, 18: Was Gott zu erschaffen vermag, das trägt der Engel in sich.
3
Philipp Strauch: Paradisus anime intelligentis, in: Deutsche Texte des Mittel-
alters, Bd XXX, Berlin 1919, Predigt 15.
4
Pf. 161, 18: so gleich werden sie Gott, daß sie göttliches Werk wirken.
5
Pf. 207, 3: Gott ist in allen Dingen; aber in der Hinsicht, daß Gott gött-