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III. Die Eigentätigkeit der Seele in ihrem innergöttlichen Sein
eine Bedingung ihres außergöttlichen Werdens
An die Lehre vom Innebleiben alles Geschaffenen im Schöpfer
knüpft sich eine andere, dunkle und geheimnisvolle Lehre Ecke-
harts, jene von der Eigentätigkeit der Seele in ihrem noch inner-
göttlichen Dasein, wodurch sie ein „fremdes Wesen“ annimmt und
in ein außergöttliches Dasein (bei gleichzeitigem Enthaltenbleiben
in Gott) tritt. Wir erinnern zuerst an die denkwürdige Äußerung
im Baseler Druck, die wir schon früher anführten:
„Mich wundert (und dies Wunder hat mich lange bekümmert), daß die Seele
nicht ein also kräftiges Wort aussprechen mag, wie der himmliche Vater ...
(Der Grund dafür ist zuletzt), daß der Sohn (Christus) ist geflossen aus der Per-
son des Vaters und ist in ihm geblieben w e s e n t l i c h (er trat als Gott in die
äußere Welt), und darum vermag er wesentlich und persönlich alles, das der
Vater vermag; die Seele aber ist ausgeflossen von den Personen und nicht im
Wesen geblieben. Mehr, sie hat empfangen ein f r e m d e s W e s e n , das vom
göttlichen Wesen (nur) geursprunget ist.“
1
Die Seele empfing ein „fremdes Wesen“, aber wodurch? Um hier
weiter zu kommen, gehen wir von den aus der Tiefe heraufgeholten
Worten in der 56. Predigt bei Pfeiffer aus:
„Dô ich stuont in dem grunde, in dem bodem, in dem river und in der
quelle der gotheit, dâ frâgete mich nieman, war ich wolte oder waz ich tete:
da enwas nieman, der mich frâgete.“
2
Entsprechend heißt es bald darauf von der Wiederkehr in Gott:
„Swenne ich kume wider in got, bilde ich da niht, so ist min durbrechen vil
edeler danne min üzvluz.“
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„Swenne ich kume in den grunt, in den bodem, in den river und in die
quelle der gotheit, da frâgete mich nieman, war ich wolte oder waz ich tête:
dâ enwas nieman, der mich frägete.“
2
Mit diesen Worten ist nicht nur das Innebleiben der Seele aus-
gedrückt (wovon ja schon oben gesprochen wurde), sondern es
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Baseler Druck von 1521, fol. 278, angeführt bei Hans Martensen: Meister
Eckhart, Hamburg 1842, S. 28 f.
2
Pf. 181, 3: Als ich im Grunde, im Boden, im Strom und Quell der Gottheit
stand, da fragte mich niemand, wohin ich wollte oder was ich täte: da war nie-
mand, der mich hätte fragen können.
3
Pf. 181, 13: Wenn ich zurückkomme in Gott und ,bilde ich da nicht
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, so ist
mein Durchbrechen (die Wiederkehr in Gott) viel edler als mein Ausfluß (aus
Gott in die Welt).
4
Pf. 181, 16: Wenn ich (nun) in den Grund, in den Boden, in den Strom und
in die Quelle der Gottheit kehre, so fragt mich niemand, woher ich komme oder
wo ich gewesen sei. Dort hat mich niemand vermißt.