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Diese Stelle ist dadurch besonders wertvoll, daß der Meister hier
unverhohlen von der mystischen Erfahrung ausgeht. In ähnlicher
Weise spricht sich Eckehart in einem anderen Zusammenhänge
derselben Abhandlung aus, und noch ausführlicher:
„Nûmerkent einen andern sin von disen Worten, diu da sprechent: ,er was
in der welt unde diu welt ist von ime geschaffen“. Bî ,dirre welt“ verstân ich
niht anders denne einen götlîchen m e n s c h e n . Wie nû ein götlich lieht müge
dise welt geheizen werden, daz merkent. Ich spriche, daz der mensche hat ein
vermugen in der sêle, daz er a l l e r c r ê a t û r e wesen hât mit den steinen,
mit den boumen unde für baz mit allen andern crêatûren, unde mit derselben
vermügenden kraft hat er a l l e r c r e a t ü r e n b i l d e enpfangen in sîner
Vernunft mit underscheidenlîcher wîse. .. Alsô sint in dem m e n s c h e n
a l l i u d i n c g e s c h a f f e n . Daz gît mir ein Zeichen: ê daz got alliu dinc
geschuof in im selber, dô was got unde helle unde vegefiur und alliu dinc, und
a l s o i s t d e r m e n s c h e d i u w e l t , dâ diz lieht inne was, unde disiu
welt ist doch von im geschaffen.“
1
(Wie in Christus) „sint alle crêatûre ein mensche unde der mensche ist got.“
2
Man wende nicht etwa ein, daß die angeführten Stellen nicht
echt seien (alles ist in diesen Traktaten allerdings nicht in der Ord-
nung und kann zum Teil aus anderen Mystikern ausgezogen sein);
denn schon allein die oben angeführten häufigen Aussprüche Ecke-
harts: daß alle Kreaturen ein Sprechen Gottes, daß sie Ein Wort
seien und daß Gott nie mehr als Ein Wort gesprochen habe, und
diese und ähnliche Gedanken beweisen, daß der Mensch, in den
alleine Gott sein Wort spricht, daß er allein der Inbegriff der gan-
zen Welt, also aller Kreaturen sei; was wieder umgekehrt heißt, daß
alle Kreaturen ein Mensch seien.
Endlich ist die Echtheit obiger Stellen auch durch Gleichläufig-
1
Pf. 589, 13: Nun nehmet einen anderen Gedanken aus den Worten (der hl.
Schrift), die da lauten: ,Er war in der Welt und die Welt ist von ihm geschaffen“.
Unter ,diese Welt“ verstehe ich nichts anders als einen güttlichen M e n s c h e n .
Hüret nun, wie ein güttliches Licht ,diese Welt“ genannt werden kann! Ich sage:
Der Mensch hat ein Vermögen in der Seele, a l l e r K r e a t u r e n S e i n in sich
zu vereinen, der Steine, der Bäume und auch aller anderen Geschöpfe; mit eben
dieser Fähigkeit hat er in seinen Geist die I d e e n b i l d e r a l l e r K r e a t u r e n
empfangen, um sie unterscheiden zu können. Auf diese Art und Weise sind i n
dem M e n s c h e n a l l e D i n g e e r s c h a f f e n . Das gibt mir ein Zeichen
(das heißt dafür ist mir auch der folgende Gedanke ein Beweis): Bevor Gott
alle Dinge schuf, da war (er) Gott und Hölle und Fegefeuer und alle Dinge (da
alle als Ideen virtualiter in ihm sind); und e b e n s o i s t d e r M e n s c h d i e
W e l t , weil das Licht (die Idee der Welt, als Möglichkeit) in ihm (schon) war.
Und diese Welt ist doch von ihm geschaffen (vom Menschen, von Gott).
2
Pf. 522, 4: (Wie in Christus) sind alle Kreaturen ein Mensch und der Mensch
ist Gott.