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Aber auch an der ausdrücklichen Bezugnahme auf Platon und
Aristoteles fehlt es nicht. Z. B. sagt Meister Eckehart in einer deut-
schen Predigt:
„Ez sprechent etlîche meister, diu sêle sî gemachet von allen dingen, want si
eine müglicheit hât alliu dinc ze verstânde. Ez liutet tôrlîche und ist doch wâr.“
1
.. . die „sêle, diu alle crêatûre under iren füezen hêt.
2
Zugleich zeigt sich an dieser Lehre wieder deutlich, wie Eckehart
einerseits die Platonisch-Aristotelische Lehre bewußt annimmt —
denn jene Meister sind die Platoniker und Aristoteliker — anderer-
seits durch seinen mystischen Lehrbegriff doch sogleich darüber hin-
ausgeht. Darüber unter anderen folgende Stelle:
„... diu sel hat ein mügenlicheit alle ding ze bekennende da von geruowet si
niemer si enköme in das erste bilde da elliu ding ein sint.“
3
Mit dieser Platonisch-Aristotelischen Lehre, daß die Seele der In-
begriff aller Dinge sei, hängt eine andere, uralte mystische Lehre
zusammen, jene vom U r m e n s c h e n oder k o s m o g o n i -
s c h e n M e n s c h e n ! Darnach ist das Weltall ein e i n z i g e r
g r o ß e r M e n s c h
4
. Eckehart erneuert diese Vorstellung in sei-
ner Weise auf Grund seiner Mystik und unter Anwendung trinitari-
scher Begriffe, wahrscheinlich ohne die alten theogonischen Lehren
gekannt zu haben (wenigstens konnte ich keine Spur davon finden).
Hier die Hauptstellen:
„Swenne der mensche gezogen ist oder gezucket wirt in die süezikeit in dem
inspilenden geiste gotes, sô minnet der mensche aller menschen nâtûre als sin
eigen nâtûre und als si got êweclîchen geminnet hât.“
5
„Daz gît mir ein Zeichen, daz a l l e c r ê a t û r e e i n m e n s c h e i s t . . . “
6
1
Pf. 97, 31: Etliche Meister sagen, die Seele sei aus allen Dingen gemacht,
weil sie die Fähigkeit hat, alle Dinge zu verstehen. Es klingt töricht und ist
doch wahr.
2
Pf. 151, 12: Die Seele, die alle Kreaturen unter ihren Füßen hat.
3
Wilhelm Wackernagel: Altdeutsche Predigten und Gebete, Basel 1876
S. 162, 60: Die Seele hat die Möglichkeit, alle Dinge zu erkennen (das ist aristote-
lisch, das Folgende geht schon darüber hinaus) und dessen ruht sie nimmer, (es
sei denn) sie gelange zu der höchsten Idee, die alles in Eins schließt.
4
Die religionsgeschichtlichen Nachweise hierfür siehe in meinem Buch: Reli-
gionsphilosophie auf geschichtlicher Grundlage, Wien 1947, S. 173 ff., 2. Aufl.,
Graz 1970, S. 193 ff.
5
Pf. 587, 20: Wenn der Mensch gezogen oder hingerissen ist in die Süße des
sich selbst Wonne spendenden Geistes Gottes, so gewinnt der Mensch aller Men-
schen Natur als eigene lieb, so wie Gott sie von Ewigkeit her lieb gehabt hat.
6
Pf. 587, 32: Das gibt mir ein Zeichen, daß a l l e K r e a t u r e i n M e n s c h
i s t .