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vollkommen, also im übertragenen Sinne gut und böse. „In der
Natur ist der Mangel ein Prinzip für die Entstehung des Bösen.“
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Auch in der Ideenlehre widerstreitet Eckeharts Naturdenken dem-
nach der neuzeitlichen Naturwissenschaft, welche nur mengenhafte,
sinnfreie, eindeutige Naturgesetze anerkennt.
Eine Sonnenfinsternis z. B. wäre für Eckehart wie für die ganze
alte Welt eine Erscheinung der Unvollkommenheit, für die mathe-
matische Naturwissenschaft dagegen ist sie rechenbar und nichts als
rechenbar.
E.
Ein B l i c k a u f d i e l e h r g e s c h i c h t l i c h e n
Z u s a m m e n h ä n g e
In seiner Ideenlehre wandelt Eckehart in den Bahnen des Platon,
Aristoteles, Augustinus und des sogenannten scholastischen Realis-
mus (wonach die Ideen real, nicht bloß „Namen“ sind — zum Unter-
schiede vom „Nominalismus“, dem sie bloß Namen sind). Aber un-
streitig gibt auch hier Eckehart den sonst herrschenden Grund-
gedanken eine eigene Vertiefung. Er verleiht ihnen dadurch eine
höhere Bedeutung, einen mystischen Glanz, den sie sonst nicht er-
reichen. — Jedoch würde uns eine nähere Untersuchung dieses Ge-
genstandes zu weit von unseren Zielen abführen. Dagegen sind die
lehrgeschichtlichen Zusammenhänge in der Naturphilosophie für
das Verständnis der Eckehartischen Gedankenwelt von unmittel-
barer Bedeutung.
Eckeharts Lehre, daß Gott allen Kreaturen gleich nahe sei, ist in
einem allgemeinen Sinne aller Mystik gemeinsam. So findet sie sich
deutlich in den altindischen U p a n i s c h a d e n . Aber der be-
stimmte Vergleich mit dem Menschen — „der Stein weiß es nicht“
— wurde nirgends erreicht. Die Lehre vom Eilen und Jagen aller
Wesen nach Gott dagegen ist uralt und kann keiner echten Mystik
ganz fehlen, da sie vielmehr zum Wesen der Mystik gehört. P l a -
t o n lehrte in den „Gesetzen“, ein Zug des Verwandten zum Ver-
wandten gehe vom Menschen zum Göttlichen
2
. Auch lehrt er, die
Ideen seien die Vorbilder der Naturdinge, wodurch er mittelbar aus-
1
B 186.
2
Platon: Gesetze 899 a ff.