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S e c h s t e r A b s c h n i t t

Mystische Erkenntnislehre

I. Lehrgeschichtlicher Vorblick

Erkenntnislehre als eigenes Sonderfach der Philosophie gibt es im

genauen Sinne des Wortes erst seit Kant. Erkenntnistheoretische

Lehren entwickelte aber von jeher jede Philosophie. Schon Platon,

Aristoteles, die Skeptiker, die Nominalisten, später die Empiristen

begründeten Lehren über das Wesen der Erkenntnis. Aristoteles

z. B. eröffnete seine „Metapysik“ bekanntlich mit den Worten: „Alle

Menschen verlangen von Natur nach dem Wissen.“ Daraus ersieht

man, welche Bedeutung er dem Erkennen beilegte. Das gleiche gilt

aber auch für alle mystischen Schulen, soweit sie philosophische Lehr-

begriffe überhaupt entwickelten.

Der Geschichtsschreiber der Mystik muß die Ansicht, es gebe im

wesentlichen nur zwei große erkenntnistheoretische Lager, das sen-

sualistisch-empiristische, welches alle Erkenntnis zuletzt auf Sinnes-

eindrücke zurückführt, und das aprioristisch-idealistische, welches

apriorische Formen, Ideen oder dialektische Kategorien der Er-

kenntnis zugrunde legt — der Geschichtsschreiber muß diese An-

sicht erweitern: Es gibt überdies eine mystische Erkenntnistheorie!

Die mystische Erkenntnistheorie ist dadurch gekennzeichnet, daß

sie, obgleich sie das idealistische Lehrgut übernimmt, darüber hinaus

noch eine höhere, letzte Quelle aller Erkenntnis annimmt: die

innere, mystische Erfahrung, das mystische Innewerden Gottes.

Darum nennen wir solche Lehren mit Recht mystische Erkenntnis-

lehren.

Den Begriffen nach sind die mystischen Erkenntnislehren am

wenigsten ausgebildet, einfach deshalb, weil die großen Mystiker

solchen Begriffen ihre Aufmerksamkeit nicht besonders zuwenden

und ihr ganzes Trachten vielmehr den mystischen Erlebnissen selber

widmen.