189
greift . . ." Sodann fährt er fort: „Demnach ergreift der Wille eine Sache (rem)
zuerst in Form ihrer stärkeren Verhüllung in das Gute, der Intellekt aber be-
greift das Seiende (ens) früher als das Wahre, aber trotzdem ist die Wahrheit
mit dabei. Hieraus wird der V o r r a n g (eminentia) des Intellekts deutlich und
folglich auch, daß die S e l i g k e i t [die ein Erkennen Gottes ist
1
], b e s s e r
i m A k t e d e s I n t e l l e k t e s a n g e s e t z t w i r d.“ Diese eindeutige Er-
klärung wird nicht dadurch entwertet, daß Eckehart unmittelbar fortfährt:
„Aber weil die Hülle weggenommen wird, ist sie vielleicht besser in dem b l o -
ß e n W e s e n der Seele anzusetzen.“
2
Als eine wohl gegen D u n s S c o t u s selber (der den Vorrang
des Willens vor der Erkenntnis behauptete) gerichtete Stelle darf
man die folgende 41. Predigt bei Pfeiffer betrachten:
„Der kerne des ersten begriffes unde der ewiger sêlikeit lît an b e k e n t -
n ü s s e. Ein meister sprach ze Paris unde ruofte unde donde unde wolte wîsen,
daz des niht enwêre. Do sprach ein ander meister, wol bezzer .. . : meister, ir
ruofet harte vaste .. . Unser herre sprach ,daz ist êwic leben, daz si dich be-
k e n n e n einen gewâren got‘.“
3
Die zuvor angeführten Worte vom „bloßen Wesen der Seele“
deuten auf das Fünklein. Denn dieses ist das Organ der Gottes-
erkenntnis. Die „Vernünftigkeit", die höhere Erkenntnis, ist bei
Eckehart stets jene Seelentätigkeit, die zur Gotteserkenntnis über-
leitet. So auch:
„Vernünftigkeit zeucht Gotte ab das Fell der Güte [die dem Willen angehört]
und nimmt ihn bloß, da er entkleidet ist von Güte, Wesen und von allen Na-
men."
4
Überhaupt gilt es, das schon früher berührte überstoffliche, über-
zeitliche Wesen der Vernunft festzuhalten:
„Sage, daß das Wesen der Seele irgendwie (quomodo) ferne ist von dieser
Welt, weil es . .. oberhalb des Intellekts und des Willens ist. Obwohl derartige
Vermögen einen erstaunlichen Vorrang (vor den niederen Vermögen) haben, so
1
Philipp Strauch: Paradisus anime intelligentis, in: Deutsche Texte des Mit-
telalters, Bd XXX, Berlin 1919, S. 94, 25.
2
B 114 f.
3
Pf. 138, 15: Der Kern des höchsten Begriffes und der ewigen Seligkeit liegt
im E r k e n n e n . Ein Meister sprach zu Paris und schrie und donnerte und
wollte erweisen, daß dies nicht stimme. Darauf sagte ein andrer Meister wohl
in besserer Weise: Meister, ihr schreiet gar sehr ... Unser Herr sprach ,Das ist
das ewige Leben, daß man dich allein als wahren Gott e r k e n n t “ .
Ober die Echtheit vgl. Philipp Strauch: Paradisus anime intelligentis, in:
Deutsche Texte des Mittelalters, Bd XXX, Berlin 1919, S. 24.
4
Franz Jostes: Meister Eckhart und seine Jünger, Ungedruckte Texte zur
Geschichte der deutschen Mystik, in: Collectanea Friburgensia Fase. IV, Freiburg
in der Schweiz 1895, No. 31.