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enmöhte ez niht getuon. Dâ von bin ich alleine sêlic, daz got vernünftic ist und
ich daz bekenne.“
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Und in derselben, durch die Rechtfertigungsschrift als echt be-
zeugten Predigt sagt Eckehart, wenn wir Gott nehmen in seinem
S e i n (Wesen), so nehmen wir ihn in seiner Vorburg, in seinem
Tempel aber (seinem eigensten Wesen) ist er „Vernünftigkeit“
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.
Schon die Lehre, daß die Seele das Bild Gottes sei, bedingt dem-
nach den Vorrang der Erkenntnis vor dem Willen.
Der Vorrang des Erkennens vor dem Willen, welchem die Liebe
zugehört, zeigt sich demnach im V e r h ä l t n i s s e b e i d e r
z u G o t t e . Dies kommt auch, was bisher nicht beachtet wurde,
in den Begriffserklärungen, die Eckehart von beiden gibt, zum Aus-
drucke:
„Die Liebe ist der Weg des inneren Menschen zu Gott... Die Wahrheit ist
gleichsam der Weg Gottes zum inneren Menschen.“
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Wieder sieht man hier deutlich, wie sich das damalige überkom-
mene Lehrgut, sei es nun Platonisch, Aristotelisch, Augustinisch oder
scholastisch in Eckeharts Geiste verwandelte, wie jeder Lehrbegriff
im mystischen Lichte „verzartet“, um- und höhergeartet wird.
Dem entspricht es auch, daß Meister Eckehart den n i e d e r e n
S e e l e n k r ä f t e n nur wenig Aufmerksamkeit schenkt. Wie er
auch hier vor allem auf die E i n h e i t der Sinnesorgane mit ihren
Gegenständen, z. B. des Auges mit dem Holze, hinarbeitet, zeigte
sich schon früher. Die damals üblichen Einteilungen der niederen
Seelenkräfte nach aristotelischer Weise in vegetative und sensitive
lehnt er nicht ab, aber er erwähnt die Sinne in verschiedener An-
zahl und in verschiedenen Zusammenhängen: „Gott hat es so ein-
gerichtet, daß unser geistiges Prinzip durch den Dienst der Sinne
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Pf. 270, 26: Ich sagte in der Schule, daß die Vernunft edler sei als der Wille
. . . Da sagte ein Meister in einer anderen Schule, der Wille sei edler als die Ver-
nunft. Ich sage aber, daß die Vernunft edler ist als der Wille. Der Wille nimmt
Gott unter dem Kleide der Gutheit. Die Vernunft nimmt Gott bloß, wie er
entkleidet ist von Gutheit und von Sein.
Nicht dadurch bin ich selig, daß Gott gut ist. Ich will (auch) niemals danach
begehren, daß Gott mich selig mache mit seiner Gutheit, denn das vermöchte er
gar nicht zu tun. Dadurch allein bin ich selig, daß Gott vernünftig ist und ich
dies erkenne.
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Pf. 269, 35 ff.
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B 75. Dem Sinne nach auch in dem Traktate über die Abgeschiedenheit ent-
halten.