188
„Vernünftekeit diu vellet in daz lûter wesen (Gottes).“
1
„Wâ von bekennet man hie wêrlîche? Daz ist dâ von, want ez ein götlich
lieht ist, daz nieman triuget.“
2
Ein sehr wichtiger Satz Eckeharts! Denn h i e r m i t i s t j e d e
A r t v o n S o l i p s i s m u s u n d M a y a l e h r e (= die Welt
sei nur Schein) a u s g e s c h l o s s e n . Erkenntnis dringt denn
auch bis zu Gott selber vor!
„.. . bekantnisse treit den slüzzel unde sliuzet ûf unde brichet durch unde
vindet got blôz unde saget denne irre gespilen, dem willen, waz si besezzen
habe, swie si doch den willen ê gehabet habe; want swaz ich wil, daz suoche ich.“
3
Der Vorrang der Erkenntnis vor dem Willen, welcher hier aus-
gesprochen wird, erfährt mit den letzten Worten zwar eine Ein-
schränkung, aber sie kann den grundsätzlichen Vorrang des Erken-
nens nicht berühren. Denn unmittelbar darnach stellt Eckehart
diesen Vorrang ausdrücklich fest:
„Bekantnisse gêt vor. Si ist ein fürstinne und suochet hêrschaft in dem
hoehsten und in dem lutersten unde teilet ez vort der sêle, unde diu sêle vort
der nâtâre unde diu nâtûre allen lîplîchen sinnen.“
4
Wenn die Eckehartsauslegung bisher schwankte, ob sie den Thomi-
stischen Vorrang des Erkennens vor dem Willen bei Eckehart finde
oder nicht, so scheint uns davon allerdings so viel berechtigt, daß
Eckehart diesen Vorrang nicht eigentlich auf die innere Gliederung
der Seelen k r ä f t e stützt, wie dies Thomas auf der einen Seite,
der Nominalismus auf der andern (dieser für den Willen) tut; viel-
mehr gründet er den Vorrang des Erkennens vor dem Willen auf
die m y s t i s c h e Einigung. Denn diese sieht er als ein Aufnehmen,
also als eine Art der Erkenntnis an. So verstanden, ist auch die fol-
gende Äußerung Eckeharts in einer lateinischen Predigt völlig ein-
deutig:
Eckehart unterscheidet hier „. . . die Hülle des Guten, unter welcher der Wille
(Gott) begreift, (und) die Hülle des Wahren, mit welcher der Intellekt Gott be-
1
Pf. 97, 27: Vernunft dringt in das lautere Sein (Gottes).
2
Pf. 98, 4: Warum erkennt man hier wahrhaft? Darum, weil es ein gött-
liches Licht ist (was man erkennt), das niemand trügt.
3
Pf. 98, 28: Erkenntnis hat den Schlüssel und schließt auf und dringt und
bricht durch und findet Gott unverhüllt und sagt sodann ihrem Gespielen, dem
Willen, was sie in Besitz genommen habe, wiewohl sie doch den Willen (dazu)
schon vorher gehabt hat; denn was ich will, das suche ich.
4
Pf. 98, 31: Erkenntnis geht voran. Sie ist eine Fürstin und sucht Herrschaft
im Höchsten und Reinsten und gibt es an die Seele weiter und die Seele weiter
an die Natur (wohl: des ganzen Leibes) und die Natur an alle leiblichen Sinne.