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zur Erkenntnis kommt.“
1
Überall wo Eckehart die niederen Seelen-
kräfte erwähnt, eilt er sogleich zu ihrem Ursprunge, so z. B. bei
Pfeiffer in der ersten Predigt:
„Alliu werc, diu diu sêle wirket, diu .. . wirket si mit den kreften unde niht
mit dem wesenne. Allez ir ûzwirken haftet iemer an etwaz mitels. Die kraft des
Sehens enwirket si niht dan durch diu ougen, und also ist ez mit allen den
andern sinnen. . . . Aber in dem wesenne enist kein werc, .. . wan die krefte, .. .
die fliezent ûz dem grunde. ... in dem grunde dâ ist daz mitel swîgen, . . .
Got gêt hie in die sêle mit dem sînem allem, . . . Nieman tuot den grunt
rüeren in der sêle denne got alleine.“
2
Es ist nicht genug zu bewundern, wie durchdringend Eckehart
auch die Sinne in den Gesamtzusammenhang des geistigen und sitt-
lichen Lebens einzugliedern weiß und dabei gleichsam mühelos die
Ganzheitslehre, deren Ausbildung mich lebenslang beschäftigte, in
vollendeter Form vorwegnimmt. Wir geben im folgenden eine von
Konrad Weiß übersetzte Stelle aus dem lateinischen Johanneskom-
mentar Eckeharts wieder:
„Es ist gründlich zu beachten, daß kein Glied (membrum) sich selbst mehr als
einem andern Gliede dient. Z. B. sieht das Auge für sich selbst nicht mehr als
für den Fuß. Ja auch dem Fuße dient es nicht, sondern dem ganzen Menschen
oder Tiere, dem es zuerst an sich unmittelbar allein dient.
Denn durch es (das Auge) und für es und seinetwegen wirken sie für sich
und für einander . . . Daher ist es schief zu sagen: das A u g e sieht, das Ohr
hört, die Z u n g e spricht usw. So aber ist es richtig: der M e n s c h sieht mit
dem Auge, hört mit dem Ohre, spricht mit der Zunge. Die Handlungen ge-
hören nämlich zu ihrem Träger, und dessen ist das Wirken, wessen das Sein ist.“
3
1
Angeführt bei: Otto Karrer: Meister Eckehart, Textbuch aus den gedruckten
und ungedruckten Quellen, München 1923, S. 11.
2
Pf. 4, 29: Alle Werke, die die Seele wirkt, die wirkt sie mittels der Kräfte
und nicht mit dem Sein. All ihr Wirken nach draußen haftet immer an etwas
Vermittelndem. Die Sehkraft wirkt nur durch die Augen und so ist es auch mit
allen anderen Sinnen. Im Sein aber gibt es kein Werk. Denn die Kräfte, die
fließen (zwar) aus dem Grunde, in diesem Grunde (selbst) aber schweigt das
Mittel.
Gott geht hier in die Seele ein mit seiner Ganzheit. Niemand berührt den
Grund in der Seele als Gott allein.
3
Aus: Ilse Roloff: Meister Eckeharts Schriften zur Gesellschaftsphilosophie,
Jena 1934, S. 293 (= Die Herdflamme, Bd 20).
Vgl. dazu mein Buch: Kategorienlehre, 3. Aufl., Graz 1969.