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Achter Abschnitt

Sittenlehre

I. Der Schlüsselbegriff: Das Zusichselbstkommen der Seele

im Streben zu Gott

In seiner Naturphilosophie sahen wir Eckehart die große Lehre

entwickeln, daß im Eilen und Jagen nach Gott die Dinge erst ihre

Eigenschaften entfalten, ihre Wirklichkeit erlangen, soferne vom

Zusammenhange der Dinge untereinander, die wir ja auch als we-

sensgebend betrachten müssen, abgesehen wird. Es ergab sich bereits,

daß es derselbe Grundsatz ist, welcher auch die Sittenlehre oder

Ethik Meister Eckeharts beherrscht. In großartigem Durchblick

durch das All erkennt er dessen Einheit und sieht daher auch beim

Menschen im „zeitlichen Werk und Gewerbe“ als e i n e m

S t r e b e n n a c h G o t t sich die geistigen Kräfte erst entfalten

und mittels dieser Entfaltung erst seine volle geistige Wirklichkeit

erlangen; womit er erst fähig wird, das höchste Gut, die Gottes-

geburt in der Seele, zu erlangen.

Wir dürfen sagen: Die Naturphilosophie Eckeharts erklärt das

Naturleben als den Weg der Natur zu Gott; seine Sittenlehre erklärt

das Menschenleben seinem reinsten Wesen nach ebenso als den

Weg des Menschen zu Gott (welcher Weg hauptsächlich in Religion

und metaphysischer Philosophie näher bestimmt wird).

Durch diese Einheit des naturphilosophischen wie geistesphiloso-

phischen Grundsatzes sind wir befähigt, das Janusgesicht der Sitten-

lehre Eckeharts zu verstehen. Einerseits ist die Sittenlehre nämlich

von dem unbedingten Streben nach Erreichung der mystischen Eini-

gung beherrscht und in dieser ihrer Eigenschaft allerdings der Über-

welt zu-, der irdischen Welt abgewandt; andererseits haben wir

Zeugnisse genug, in denen Eckehart die T ä t i g k e i t i n d e r

W e l t als das Notwendige, Unerläßliche erklärt. Wie ist das zu

reimen? Die Antwort gibt uns der genannte naturphilosophische

Grundsatz, der zugleich ein geistesphilosophischer ist!