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einzig seinem Ziele zuzueilen und gleichsam alles auf einmal aus-
zusprechen — es ist der höchste Zustand, zu dem der Mensch ge-
langen kann, die Gottesgeburt in der Seele. Dieses höchste Ziel des
Lebens bestimmt überall seine Sittenlehre.
Um das zu erreichen, bedarf es aber einer Vorbereitung. Die
Seele muß durch die Welt hindurch, sie muß schließlich l e e r
werden von den Kreaturen, um Gott aufzunehmen. Und diesen
Zustand, diese Tugend, nennt Meister Eckehart die A b g e s c h i e -
d e n h e i t . Sooft er sie nennt, feiert er sie in höchsten Worten
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Die Übersetzung dieses längeren Zitates führen wir hier unter dem Striche
gleichlaufend mit dem mittelhochdeutschen Texte mit.
Pf. 483, 32—487, 11: Ich habe viele Bücher gelesen, sowohl von heidnischen
Meistern als auch von Propheten, im Alten und im Neuen Bunde, und (ich) habe
mit Ernst und ganzem Fleiß gesucht, welche die beste und die höchste Tugend
sei, mit der der Mensch Gott am allernächsten kommen könne . ..
Und da ich alle Schriften ergründe, soweit meine Vernunft mitschaffen und
erkennen kann, da finde ich nichts anderes als reine Abscheidung von aller
Kreatur.
Die Lehrer loben Liebe über alle Maßen... Ich lobe dagegen vor aller Liebe
die Abgeschiedenheit. Erstens schon deswegen, weil das Beste an der Liebe das
Zwingende, Gott zu lieben, ist. Es ist aber viel adeliger, daß ich Gott zu mir
zwinge als daß ich mich zu Gott zwinge. Und das kommt daher, daß meine
ewige Seligkeit daran hängt, daß ich und Gott vereint werden. Denn Gott kann
sich besser zu mir fügen und mit mir vereinen als ich mich mit Gott vereinen
könnte.
Daß Abgeschiedensein Gott zu mir her nötigt, beweise ich damit: Jedes Ding
ist gerne an seiner natürlichen eigenen (Heim-)Statt. Nun ist Gottes natürlicher
eigener Zustand Einheit und Reinheit. (Doch) die kommen von Abgeschieden-
sein. Darum muß Gott notwendigerweise einem abgeschiedenen Herzen sich
selber geben. Und weiterhin stelle ich Abgeschiedenheit über Liebe, denn Liebe
zwingt mich, alle Dinge für Gott zu leiden: Dagegen zwingt mich Abgeschieden-
heit, für nichts als für Gott empfänglich zu sein.
So steht Abgeschiedenheit aller Geschöpflichkeit ledig. Daß Abgeschiedenheit
nur Gott empfangen mag, erweise ich mit folgendem: Wenn etwas empfangen
werden soll, so muß dies um ein Warum geschehen. Nun ist Abgeschiedenheit
dem Nichts so nahe, daß kein Ding klein genug ist, darin enthalten zu sein, es
sei denn Gott. Der ist so eingefaltet und gering, daß er sich in einem abgeschie-
denen Herzen wohl bergen mag; daher mag die Abgeschiedenheit nur Gott
empfangen.
Die Meister ziehen auch die Demut viel andren Tugenden vor. Ich (aber) lobe
die Abgeschiedenheit vor aller Demut.
Vollkommene Demut neigt sich selber unter alle Kreatur, und in dieser Ver-
neigung veräußerlicht sich der Mensch nach der Art der Kreatur. Aber Ab-
geschiedenheit steht für sich selber . . .
Ich lobe auch die Abgeschiedenheit vor aller Barmherzigkeit. Denn Barm-
herzigkeit ist nichts anderes, als daß der Mensch aus sich heraus geht und sein