Table of Contents Table of Contents
Previous Page  7948 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 7948 / 9133 Next Page
Page Background

196

„Ich habe der geschrift vil gelesen, beide von heidenischen meistern unde von

wîssagen, unde von der alten ê unde von der niuwen ê, unde habe mit erneste

unde mit ganzem fiîze gesuochet, welhiu diu beste unde diu hoehste tugent sî,

da mite der mensche sich zuo gote aller nêhest zuo gefüegen müge .. .

Unt sô ich alle geschrift durchgründe alse verre mîn Vernunft erziugen unde

bekennen mac, sô vinde ich niht anders wan lûteriu abegescheidenheit ledig aller

crêatûren. ...

Die lerer lobent minne groezlichen, ... Sô lobe ich abegescheidenheit für alle

minne. Zem êrsten dar umbe, wan daz beste an der minne ist, daz si mich

twinget, daz ich got minne. Nû ist vil adelîcher, daz ich got twinge zuo mir,

dan daz ich mich twinge zuo gote. Und daz ist dâ von, wan min êwigiu sêlikeit

lît dar an, daz ich unde got vereinet werden; wan got kan sich einfüeglîcher

füegen zuo mir unde baz vereinen mit mir, dan ich mich kunde vereinen mit

gote. Daz abegescheidenheit twinge got zuo mir, daz bewêre ich da mite: wan

ein ieglich dinc ist gerne an sîner nâtiurlîchen eigen stat. Nû ist gotes nûtiur-

lîchiu eigeniu stat einekeit unde lûterkeit; die koment von abegescheidenheit.

Dar umbe muoz got von nôt sich selber geben einem abegescheidenen herzen. —

Zem andern mâle lobe ich abegescheidenheit für minne, wan minne twinget mich

dar zuo, daz ich alliu dinc lîde durch got: Sô twinget mich abegescheidenheit dar

zuo, daz ich nihtes enpfenclich bin denne gotes. . ..

Sô stât abegescheidenheit ledic aller crêatûre. Daz aber abegescheidenheit

nihtes enpfenclich sî denne gotes, daz bêwere ich da mite: Wan swaz enpfangen

werden sol, daz muoz eteswar umbe enpfangen werden. Nû ist abegescheidenheit

dem nihte alsô nâhen, daz kein dinc sô kleinfüege ist, daz ez sich enthalten müge

in abegescheidenheit, denne alleine got. Der ist also einvaltic unde kleinfüege,

daz er sich in dem abegescheidenen herzen wol enthalten mac. Da von ist abe-

gescheidenheit nihtes enpfenclich denne gotes. . ..

Die meister lobent ouch dêmuot für vil ander tugent. Ich lobe abegescheiden-

heit für alle dêmuot, .. .

Herz von den Mängeln und Leiden seines Nächsten betrüben läßt. Davon ist

Abgeschiedenheit frei, bleibt in sich und läßt sich durch kein Ding betrüben.

Kurz gesagt: Wenn ich alle Tugenden betrachte, so finde ich keine ohne

irgendeinen Nachteil und so gottgefällig wie die Abgeschiedenheit.. .

Der Mensch, der so in völliger Abgetrenntheit steht, wird derart in die

Ewigkeit verzückt, daß ihn nichts Vergängliches mehr bewegen kann.

Nun möchtest du fragen, was Abgeschiedenheit (denn) ist, wenn sie an sich

so edel ist? Du sollst wissen, daß rechte Abgeschiedenheit nichts anderes ist, als

daß der Geist unbeweglich steht gegen alle Zufälligkeiten der Liebe und des

Leides, von Ehre, Schande und Laster, so wie ein b r e i t e r B e r g u n -

b e w e g l i c h i n e i n e m W i n d h a u c h s t e h t . Dieses unbewegliche Ab-

geschiedensein bringt den Menschen zur größten Gottesgleichheit. D e n n d a ß

G o t t G o t t i s t , d a s k o m m t v o n s e i n e r u n b e w e g t e n A b -

g e s c h i e d e n h e i t . Und von der Abgeschiedenheit hat er seine Reinheit

und seine Einfalt und seine Unwandelbarkeit. Daher muß das Gottgleichwerden

des Menschen — so eine Kreatur überhaupt Gleichheit mit Gott haben kann —

mit Abgeschiedenheit geschehen. . . Und diese Gleichheit muß Gnadenhilfe

haben . . .

L e e r a l l e r K r e a t ü r 1 i c h k e i t s e i n i s t G o t t e s v o l l

s e i n

und voll aller Kreatürlichkeit ist gottleer sein.