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„Ich habe der geschrift vil gelesen, beide von heidenischen meistern unde von
wîssagen, unde von der alten ê unde von der niuwen ê, unde habe mit erneste
unde mit ganzem fiîze gesuochet, welhiu diu beste unde diu hoehste tugent sî,
da mite der mensche sich zuo gote aller nêhest zuo gefüegen müge .. .
Unt sô ich alle geschrift durchgründe alse verre mîn Vernunft erziugen unde
bekennen mac, sô vinde ich niht anders wan lûteriu abegescheidenheit ledig aller
crêatûren. ...
Die lerer lobent minne groezlichen, ... Sô lobe ich abegescheidenheit für alle
minne. Zem êrsten dar umbe, wan daz beste an der minne ist, daz si mich
twinget, daz ich got minne. Nû ist vil adelîcher, daz ich got twinge zuo mir,
dan daz ich mich twinge zuo gote. Und daz ist dâ von, wan min êwigiu sêlikeit
lît dar an, daz ich unde got vereinet werden; wan got kan sich einfüeglîcher
füegen zuo mir unde baz vereinen mit mir, dan ich mich kunde vereinen mit
gote. Daz abegescheidenheit twinge got zuo mir, daz bewêre ich da mite: wan
ein ieglich dinc ist gerne an sîner nâtiurlîchen eigen stat. Nû ist gotes nûtiur-
lîchiu eigeniu stat einekeit unde lûterkeit; die koment von abegescheidenheit.
Dar umbe muoz got von nôt sich selber geben einem abegescheidenen herzen. —
Zem andern mâle lobe ich abegescheidenheit für minne, wan minne twinget mich
dar zuo, daz ich alliu dinc lîde durch got: Sô twinget mich abegescheidenheit dar
zuo, daz ich nihtes enpfenclich bin denne gotes. . ..
Sô stât abegescheidenheit ledic aller crêatûre. Daz aber abegescheidenheit
nihtes enpfenclich sî denne gotes, daz bêwere ich da mite: Wan swaz enpfangen
werden sol, daz muoz eteswar umbe enpfangen werden. Nû ist abegescheidenheit
dem nihte alsô nâhen, daz kein dinc sô kleinfüege ist, daz ez sich enthalten müge
in abegescheidenheit, denne alleine got. Der ist also einvaltic unde kleinfüege,
daz er sich in dem abegescheidenen herzen wol enthalten mac. Da von ist abe-
gescheidenheit nihtes enpfenclich denne gotes. . ..
Die meister lobent ouch dêmuot für vil ander tugent. Ich lobe abegescheiden-
heit für alle dêmuot, .. .
Herz von den Mängeln und Leiden seines Nächsten betrüben läßt. Davon ist
Abgeschiedenheit frei, bleibt in sich und läßt sich durch kein Ding betrüben.
Kurz gesagt: Wenn ich alle Tugenden betrachte, so finde ich keine ohne
irgendeinen Nachteil und so gottgefällig wie die Abgeschiedenheit.. .
Der Mensch, der so in völliger Abgetrenntheit steht, wird derart in die
Ewigkeit verzückt, daß ihn nichts Vergängliches mehr bewegen kann.
Nun möchtest du fragen, was Abgeschiedenheit (denn) ist, wenn sie an sich
so edel ist? Du sollst wissen, daß rechte Abgeschiedenheit nichts anderes ist, als
daß der Geist unbeweglich steht gegen alle Zufälligkeiten der Liebe und des
Leides, von Ehre, Schande und Laster, so wie ein b r e i t e r B e r g u n -
b e w e g l i c h i n e i n e m W i n d h a u c h s t e h t . Dieses unbewegliche Ab-
geschiedensein bringt den Menschen zur größten Gottesgleichheit. D e n n d a ß
G o t t G o t t i s t , d a s k o m m t v o n s e i n e r u n b e w e g t e n A b -
g e s c h i e d e n h e i t . Und von der Abgeschiedenheit hat er seine Reinheit
und seine Einfalt und seine Unwandelbarkeit. Daher muß das Gottgleichwerden
des Menschen — so eine Kreatur überhaupt Gleichheit mit Gott haben kann —
mit Abgeschiedenheit geschehen. . . Und diese Gleichheit muß Gnadenhilfe
haben . . .
L e e r a l l e r K r e a t ü r 1 i c h k e i t s e i n i s t G o t t e s v o l l
s e i n
—
und voll aller Kreatürlichkeit ist gottleer sein.