199
atheistische Folgerung mehr oder weniger entschieden ziehen (in der Volks-
religion hat dies allerdings insofern keine Bedeutung, als ja Buddha selbst zum
Gotte erhoben wird).
Bedenken wir noch, daß Eckehart auch dem Leiden eine schöpferische Seite
abgewinnt, dem Leben selbst göttlichen Ursprung zuerkennt, auch in der
Natur Leben und Gottesglanz sieht, vor allem aber die T ä t i g k e i t neben
der Beschauung und Abgeschiedenheit in entschiedenster Weise fordert — be-
denken wir dies alles, so haben wir in Eckeharts Mystik eine Lehre, welche von
selbst und mühelos den heute in Europa wieder um sich greifenden nihilisti-
schen Buddhismus widerlegt! Und sie widerlegt ihn, was besonders zu würdigen
ist, indem sie auf dieselbe mystische Erfahrung zurückgeht wie jene lähmenden,
alles Leben abtötenden Richtungen des Buddhismus. Von dem Unterschiede
des christlichen und buddhistischen Erlösungsbegriffes, welch letzterer die Be-
freiung von endlosen Wiederverkörperungen ist, sehen wir dabei ganz ab!
Im besonderen haben wir noch die Auffassung Karl Eugen N e u m a n n s
zurückzuweisen, wonach Eckehart mit Buddha gerade in den oben erwähnten
nihilistischen Lehren übereinstimmen soll! Sein Buch „Die innere Verwandt-
schaft buddhistischer und christlicher Lehren. Zwei buddhistische Suttas und ein
Traktat Meister Eckeharts, aus den Originalen übersetzt“
1
, ist aber von der-
selben Willkürlichkeit leider nicht freizusprechen, an der auch, wie bekanntlich
sprachwissenschaftliche Kenner nachwiesen, seine Übersetzungen leiden.
III.
Mystischer Begriff der Gemeinschaft (Gezweiung)
Ist nun Abgeschiedenheit und zuletzt alle Mystik ein individuel-
les Verhältnis der menschlichen Seele zu Gott? Läuft sie daher nicht
letzten Endes, ins Gesellschaftliche übertragen, auf I n d i v i d u a -
l i s m u s u n d S u b j e k t i v i s m u s hinaus?
Solche Fragen stellt Eckehart allerdings nicht ausdrücklich, denn
in jener glücklichen Zeit des Mittelalters, in der er lebte, gab es
noch keine „soziale Frage“ im eigentlichen Sinne; und vollends die
individualistische Gesellschaftserklärung, welcher die Gesellschaft
eine bloße Ansammlung geistig selbstgenügsamer („autarker“) Ein-
zelner ist, wetterleuchtete erst schwach am Himmelsrande der Ge-
schichte, nämlich in Gestalt der Lehren des Marsilius von Padua
und der „kleinen Meister“, wie Eckehart die Nominalisten nannte
2
.
Könnte sich nicht dennoch heimlich ein Individualismus durch die
Abgeschiedenheitslehre in die Sittenlehre Eckeharts eingeschlichen
haben? Wir antworten: nein! Denn obgleich sich die Abgeschieden-
1
Leipzig 1891, Verlag Max Spohr.
2
Über die (individualistische) Gesellschaftsauffassung des Marsilius von Padua
siehe mein Buch: Die Haupttheorien der Volkswirtschaftslehre auf lehrgeschicht-
licher Grundlage, 25. Aufl., Heidelberg 1948, S. 22 [27. Aufl., Graz 1967, S. 33].