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210

V.

Tugendlehre

A. G r u n d s ä t z l i c h e s

Tugend ist Gottähnlichkeit, ist Gottförmigkeit — eine alte Lehre,

welcher Meister Eckehart einen neuen Sinn und einen neuen Glanz

gibt.

Die Tugendlehre Meister Eckeharts im einzelnen darzustellen,

würde in die scholastische Theologie jener Zeit führen. Wir be-

schränken uns daher auf das Grundsätzliche.

Die Grundlage aller Tugend ist, wie sich soeben erwies, daß der

Geist in Gott verankert sei, mitten im Gestürme der Werke. Ist

das erreicht, dann ist der Geist erhoben, dann kann sich auch der

Wille über die unmittelbare Sinnlichkeit erheben und der V e r -

n u n f t gehorchen! Wir finden hier Eckeharten genau mit K a n t

übereinstimmend! So mißtrauisch man gegen derartige Vergleiche im

allgemeinen sein muß, ich kann nicht umhin, dieses Urteil in diesem

Falle klar auszusprechen. Eckehart nimmt hier unzweideutig schon

die Kantische Sittenlehre vorweg. In der folgenden, zweifellos ech-

ten Stelle lehnt er zuerst die völlige Verneinung der Sinnlichkeit,

das ist die weltscheue Askese ab, sodann spricht er dem Willen (der

in Gott gefestigt ist) die Fähigkeit zu, dem Gebote der V e r -

n u n f t unter Hintansetzung der natürlichen Lust zu folgen:

„Nû wênent unser guoten liute [die Asketen] erkriegen, daz gegenwürtekeit

sinnelîcher dinge den sinnen niht ensî. Des engât in niht zuo: daz ein p î n -

l i c h g e d o e n e m î n e n ô r e n a l s l u s t i g s î a l s e i n s ü e z e z

s e i t e n s p i l , d a z e r k r i e g e i c h n i e m e r.“

1

Nach dieser Abweisung der Welt- und Sinnlichkeitsverneinung,

als gegen die Natur des Menschen gerichtet, fährt er unmittelbar

fort:

„Aber daz sol man haben, daz ein redelich gotgeformeter wille b l ô z

s t â n d e alles nâtiurlîchen lustes, swenne ez bescheidenheit an schouwet, daz si

dem willen gebiete, sich abe ze kêrende, unde der wille spreche: ich tuon ez

1

Ein Wort, das man auch der neuesten Musik und Kunst gegenüber geltend

machen muß!

Pf. 53, 14: Nun wähnen unsere guten Leute (die Asketen), es dahin bringen

zu können, daß das Gegenwärtigsein sinnlicher Dinge für ihre Sinne nichts be-

deute. Aber das gelingt ihnen nicht: Daß ein q u a l v o l l e s G e t ö n

m e i n e n O h r e n s o w o h l t u e w i e e i n s ü ß e s S a i t e n s p i e l , d a s

w e r d e I C H n i e e r r e i c h e n .