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Wie man sieht, wendet sich Meister Eckehart in jeder Weise gegen
jene Sittenlehre, die man später „ U t i l i t a r i s m u s “ nannte,
die aber der Form nach noch nicht ausgebildet war, allerdings im
N o m i n a l i s m u s , der Lehre der „kleinen Meister“ (wie sie
Eckehart nannte), schon ihre Schatten vorauswarf.
Zur Tugendübung gehört sittliche F r e i h e i t . Eckehart knüpft
folgerichtig die Freiheit an die höchste innere Erfahrung, an welche
ja auch die Tugend zuletzt geknüpft ist, da diese auf Abgeschieden-
heit weist (wie sich schon zeigte).
„Vrîheit ist daz wir mit nihte gebunden sîen, daz wir alsô vrî unde lûter
und also unvermenget sîen, als wir wären in unserm êrsten ûzfluzze unt dô wir
gevrîet wurden in dem heiligen geiste.“
1
„. . . : der gerehte mensche dienet weder got noch den crêatûren, wan er ist
f r î
;
unde ie er der gerehtekeit nêher ist, ie er diu frîheit selber ist. .. Allez
daz, daz geschaffen ist, daz ist niht frî. Die wîle ihtesiht ob mir ist, daz got
selber niht ist, daz drücket mich, swie kleine ez joch ist... , und wêre ez joch
Vernunft unde minne, als verre als si geschaffen ist unde got selber niht enist,
daz drücket mich,. . ,“
2
.
Diese Ansicht finden wir auch in der Vollkommenheits- und Ab-
geschiedenheitslehre Eckeharts bestätigt.
B. Das G e b e t
Eckehart dehnt die Lehre vom „sonder warumbe“ auch auf das
Gebet aus, was nicht nur theologisch wichtig ist, sondern zugleich
zur Tugendlehre gehört. Der Mystiker betet seinem Wesen nach
nicht um eine weltliche Gabe; er betet nur um Erleuchtung — um
das Größte
3
!
Daher sagt Eckehart:
„. .. , alse ich beten sol, sô spriche ich: herre, diz ist sô kleine, daz wir dich
biten, der mich sîn bête, ich tête ez im, unde füeget dir hundertwerbe baz dan
1
Pf. 252, 8: Freiheit heißt: durch nichts gebunden sein, so frei und lauter
und so unvermengt sein, wie wir bei unserem ersten Ausflusse (aus der Gottheit)
waren und damals, als wir gefreit wurden im Heiligen Geiste (gemeint ist wohl
ein sinnliches Bild der Befreiung, die ,geistige Hochzeit der Seele“).
2
Pf. 260, 14: Der gerechte Mensch dient weder Gott noch den Kreaturen,
denn er ist f r e i ; und je näher er der Gerechtigkeit ist, umso mehr ist er die
Freiheit selbst. . . Alles, was geschaffen ist, das ist nicht frei. Solange irgend etwas
über mir ist, das nicht Gott selber ist, das drückt mich, so gering es auch s e i . . . ,
und wäre es selbst Vernunft oder Liebe (die über mir ist): sofern es geschaffen
und nicht Gott selbst ist, bedrückt es mich, . . .
3
Belege für alle Mystik in meinem Buch: Religionsphilosophie auf geschicht-
licher Grundlage, Wien 1947 [2. Aufl., Graz 1970].