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WILLE . .. denne sprichet diu sêle ,herre, sprich in mich daz dîn êwiger wille
sî“.“
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Wie sich zeigt, behaupten auch in der Besonderung der Tugenden
Sinnlichkeit und Denken bei Eckehart ihre Stellung neben der auf
Abgeschiedenheit zielenden Geisteshaltung. Das Tätige neben das
Schauende zu stellen, darauf ist Eckehart in jedem Zusammenhange
der Fragen und Denkaufgaben seiner Geistes- und Sittenlehre be-
dacht.
Eine feststehende, überall gleich durchgeführte Einteilung der
Tugenden dürfte man bei Meister Eckehart schwerlich herausfinden
können. Wohl spielen die in der Schrift über die Abgeschiedenheit
genannten: M i n n e , D e m u t , B a r m h e r z i g k e i t eine
besondere Rolle; aber daneben treten auch andere Einteilungen auf.
So wenn Minne die Urform aller Tugenden, Hochmut die Urform
aller Laster genannt wird:
„In jeder Sünde ist Hochmut.“
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Eckeharts bedeutsamste Einteilung der Tugenden, die aber, wie
es scheint, nicht weitergeführt wurde, scheint mir die in einer latei-
nischen Predigt vorgetragene
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zu sein, in welcher der Meister er-
klärt: Wer sich zur Gnade bereiten will, müsse drei Dinge haben:
D e m u t des Geistes; B e s t ä n d i g k e i t des Herzens und
M i t t e i l s a m k e i t hinsichtlich des (von Gott) Empfangenen,
„communicabilitas receptorum“.
Diese Tugend der M i t t e i l s a m k e i t , die meines Wissens
bisher überhaupt nicht beachtet wurde, ist deshalb so bedeutsam,
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Pf. 52, 4: Nun vernehmet die Lehre der Tugend. Tugendhaftes Leben hängt
an drei Merkmalen des Willens. Das Gemeinsame (der drei, die Einheit der drei)
ist dies: den Willen aufgeben in Gott; denn es muß sein, daß man ausführe, was
man da (im tugendhaften Leben) erkennt, sei es ein Ablegen oder ein Auf-
nehmen. Dementsprechend ist dreierlei Wille. Der eine ist ein „sinnlicher“
Wille, der zweite ein „vernunfterhellter“ Wille, der dritte ein „ewiger“ Wille.
Der sinnliche Wille verlangt Belehrung, verlangt, daß man auf wahrhafte Lehre
höre; der vernunfterhellte Wille besteht darin, daß man die Füße setze in alle
W e r k e Jesu Christi und der Heiligen (ihnen irdisch Nachfolge leiste), das
heißt, daß man W o r t , W a n d e l u n d „ G e w e r b e “ gleichmäßig aus-
richte hin auf das Nächste (das heißt den b e s t i m m t e n Anforderungen der
irdischen Vernunft entsprechend); wenn dies erfüllt ist, so gibt Gott ein weiteres
in der Seele Grund: das ist ein ewiger Wille ... Dann sagt die Seele: ,Herr,
sprich in mich, was dein ewiger Wille sei!“
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B 192.
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B 116 f.