217
mir, und dû têtest ez ouch gerner; unde wêre daz, daz wir dich iht groezers
bêtin, ez füegete dir wol ze gebende; u n d e s ô e z i e g r o e z e r i s t , s o
d û e z i e g e r n e r g i b e s t , . .
„Waz ist daz gebete? Daz ist, daz man bekenne daz blôze wesen. . .“
2
.
Die mystische Beschauung selbst ist ihm das Gebet oder dessen
Ziel. Darin gibt Gott sich selbst, er gibt Großes lieber denn Kleines!
Denn:
„Ez w ü r k e t g o t u n d e b e g e r t d i u s ê l e.“
3
Und noch ein anderer Gedanke, welcher der Naturphilosophie
angehört, stimmt damit überein. Eckehart sagt:
„ . . . , ein ieglich [jede Kreatur] gevâhe [von Gott] sô vil si welle.“
4
Das wird aber durch ein anderes Wort erläutert:
„Ie edelre diu crêatûre, ie nâher si gote sippe ist“
5
.
Die sich mehr „nehmen“ oder auch mehr erstreben, „bitten“,
sie erhalten mehr: G o t t g i b t l i e b e r Großes als Kleines. Wer
aus der Tiefe seines Wesens beharrlich Großes erstrebt, wird es er-
langen. „Wer hoher Dinge begehrt, ist hoch.“
Eckehart erweist sich auch hier wieder nicht nur als Lesemeister,
sondern als Lebemeister.
Wie nahe kommt hier wieder G o e t h e der Lehre Eckeharts,
wenn er sagt: „Große Gedanken und ein reines Herz, das ist es,
worum wir Gott bitten sollen“.
Meister Eckehart sagt einmal ganz ähnlich:
„Got enbedarf niht mê dan daz man ime ein ruowic herze gebe: . . .“
6
.
Freilich zielt er damit gleich auf das Allerhöchste:
„Diu sêle sol nimmer ûf gehoeren [die Gottesgeburt anzustreben], si enwerde
des Werkes alsô gewaltic alse got.“
7
1
Pf. 149, 16: Wenn ich beten soll, so spreche ich (gelegentlich): Herr, dies ist
doch so gering, um das wir dich bitten! Wenn mich jemand darum bäte, so täte
ich’s ihm, und dir fällt es doch hundertmal leichter als mir, und du tätest es
auch lieber; und wär’s, daß wir dich um etwas Größeres bäten, so fiele es dir
leicht, es zu geben. Und je g r ö ß e r e s i s t , u m s o l i e b e r g i b s t d u e s .
2
Pf. 121, 30: Was ist das Gebet? Es ist (Hilfe), daß man das bloße Wesen er-
kennt . . .
3
Pf. 86, 17: Es wirkt Gott und begehrt die Seele.
4
Pf. 94, 35: Jede Kreatur nehme sich von Gott soviel sie will.
5
Pf. 133, 27: Je edler die Kreatur, umso näher ist sie Gott verwandt.
6
Pf. 153, 12: Gott bedarf nicht mehr, als daß man ihm ein ruhiges (friede-
volles) Herz gibt.
7
Pf. 161, 30: Die Seele soll niemals aufhören, die Gottesgeburt anzustreben,
es sei denn, sie käme in der Gewalt ihrer Werke Gott gleich.