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Und wieder die Abgeschiedenheit als tiefster Grund aller Tu-
genden:
„Ich habe ez ouch mê gesprochen: wer ich îtel und hête ein infiuric minne
unde glîcheit, ich züge got alzemâle in mich.“
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VI. Vollkommenheit und Unvollkommenheit.
Das Böse, Sünde, Leiden, Erlösung
A.
V o l l k o m m e n h e i t u n d U n v o l l k o m m e n h e i t
In der Lehre vom Fünklein, von der Gottesgeburt in der Seele,
von der Schöpfung und von der Abgeschiedenheit tritt zugleich
überall der Begriff dessen, was vollkommen ist, von selbst hervor.
Daher hieße es, vieles von dem dort Vorgetragenen wiederholen,
wollten wir auf den Lehrbegriff der Vollkommenheit hier von
Grund auf eingehen. Der Eckehartische und zugleich patristisch-
scholastische Vollkommenheitsbegriff ist sehr einfach erklärt: Das
V o l l k o m m e n e i s t G o t t ; und damit sind es auch die ihm
wesensgemäß zukommenden Eigenschaften, von denen Eckehart vor
allem das Wahre, Gute oder Gerechte und das Sein in vielen Bei-
spielen immer wieder hervorhebt. Da diese Eigenschaften nach scho-
lastischer Lehre „vertauschbar“ sind, ist eine Minderung z. B. an
Gerechtigkeit stets auch eine M i n d e r u n g a n S e i n , wie um-
gekehrt (schon nach Aristoteles ist das Unvollkommene Beraubung).
Ins Sittliche gewendet, heißt dies, daß Meister Eckeharts Voll-
kommenheitslehre in der Sittenlehre stets eine o n t o l o g i s c h e
G r u n d l a g e hat: Je mehr Gerechtigkeit, umso mehr Sein. Und
das Unvollkommene ist stets durch eine M i n d e r u n g a n S e i n
gekennzeichnet! Das zeigte sich bereits in der Tugendlehre, wie es
sich sogleich in der Lehre vom Bösen oder Unvollkommenen er-
weisen wird.
In der Sittenlehre ist demnach die Vollkommenheitslehre Ecke-
harts am einfachsten ausgesprochen, er wird den früher schon in
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Pf. 161, 20: Ich habe auch schon anderswo gesagt: Wäre ich leer (stände ich
in der Abgeschiedenheit) und hätte ich eine inbrünstige Liebe und Gleichheit
(Gottes, käme ich Gott gleich), ich zöge Gott allsogleich in mich.