Table of Contents Table of Contents
Previous Page  7970 / 9133 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 7970 / 9133 Next Page
Page Background

218

Und wieder die Abgeschiedenheit als tiefster Grund aller Tu-

genden:

„Ich habe ez ouch mê gesprochen: wer ich îtel und hête ein infiuric minne

unde glîcheit, ich züge got alzemâle in mich.“

1

VI. Vollkommenheit und Unvollkommenheit.

Das Böse, Sünde, Leiden, Erlösung

A.

V o l l k o m m e n h e i t u n d U n v o l l k o m m e n h e i t

In der Lehre vom Fünklein, von der Gottesgeburt in der Seele,

von der Schöpfung und von der Abgeschiedenheit tritt zugleich

überall der Begriff dessen, was vollkommen ist, von selbst hervor.

Daher hieße es, vieles von dem dort Vorgetragenen wiederholen,

wollten wir auf den Lehrbegriff der Vollkommenheit hier von

Grund auf eingehen. Der Eckehartische und zugleich patristisch-

scholastische Vollkommenheitsbegriff ist sehr einfach erklärt: Das

V o l l k o m m e n e i s t G o t t ; und damit sind es auch die ihm

wesensgemäß zukommenden Eigenschaften, von denen Eckehart vor

allem das Wahre, Gute oder Gerechte und das Sein in vielen Bei-

spielen immer wieder hervorhebt. Da diese Eigenschaften nach scho-

lastischer Lehre „vertauschbar“ sind, ist eine Minderung z. B. an

Gerechtigkeit stets auch eine M i n d e r u n g a n S e i n , wie um-

gekehrt (schon nach Aristoteles ist das Unvollkommene Beraubung).

Ins Sittliche gewendet, heißt dies, daß Meister Eckeharts Voll-

kommenheitslehre in der Sittenlehre stets eine o n t o l o g i s c h e

G r u n d l a g e hat: Je mehr Gerechtigkeit, umso mehr Sein. Und

das Unvollkommene ist stets durch eine M i n d e r u n g a n S e i n

gekennzeichnet! Das zeigte sich bereits in der Tugendlehre, wie es

sich sogleich in der Lehre vom Bösen oder Unvollkommenen er-

weisen wird.

In der Sittenlehre ist demnach die Vollkommenheitslehre Ecke-

harts am einfachsten ausgesprochen, er wird den früher schon in

1

Pf. 161, 20: Ich habe auch schon anderswo gesagt: Wäre ich leer (stände ich

in der Abgeschiedenheit) und hätte ich eine inbrünstige Liebe und Gleichheit

(Gottes, käme ich Gott gleich), ich zöge Gott allsogleich in mich.