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mehreren Zusammenhängen berührten Begriff der G o t t -
f ö r m i g k e i t oder Gottähnlichkeit der Seele zugrunde legen.
Jede Tugend ist demnach nur insoferne Tugend, als sie die Seele
gottförmig macht; wir können auch sagen, als sie eine E n t -
s p r e c h u n g v o n E i g e n s c h a f t e n G o t t e s in der Seele
hervorruft oder zur Grundlage hat. So sagt Eckehart einmal ge-
radezu:
„Barmherzigkeit verleiht der Seele den Schmuck der Gottförmigkeit.“
1
Das ist in weiterem Sinne allen Mystikern gemeinsam, im be-
sonderen ist diese Lehre p l a t o n i s c h zu nennen. Denn Platon
lehrt nachdrücklich das Streben nach Gottähnlichkeit
2
. Auch der in
der Scholastik bekannte Satz Platons: „Gott ist das Maß der Dinge“
3
ist nichts anderes als eine Lehre der Vergottung und Gottförmig-
keit des Menschen als seines höchsten Zieles. Eckehart selbst macht
diesen Satz zu dem seinen:
„Gott ist das Maß aller Dinge sowohl im Sein als auch ganz allgemein in jeder
(Art von) Vollkommenheit.“
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Auf die Sittenlehre angewandt, gilt daher als allgemeinster
Grundsatz Eckeharts:
„.. . daß wir die Vollkommenheit vergebens außerhalb der zeitlichen Güter
[das heißt bei Gott] suchen, solange wir in i h r e r G e g e n w a r t
5
. . . [Gott]
unähnlich sind und [von ihnen] bestimmt werden .. . [Denn] solange ich mich . .
von den gegenwärtigen Gütern bestimmen lasse, solange werde ich. . . auch wei-
terhin [zeitliche] Güter erstreben, die ich noch nicht habe . . ,“
6
.
Und
„Der Trost des Geistes wird niemandem gegeben, der anderen Trost hat [also
zeitlichen Lohn will].“
7
Wir sehen hier Eckehart überall auf die Abgeschiedenheit hin-
zielen, welche ja den Weg zur sittlichen Vollkommenheit, die zu-
gleich eine Vollkommenheit des Seins ist, bezeichnet.
Denn dem Wesen der Seele entspricht es,
„... nicht durch ein Geschaffenes, sondern nur durch Gott allein sich formen
zu lassen.“
8
1
B 122.
2
Platon: Staat 613 b; Gesetze 716 c d; Theaitetos 176 b.
3
Platon: Gesetze 716 c.
4
B 132.
5
also im tätigen Leben.
6
B 152 f.
7
B 140.
8
B 143.