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kann ich nicht sagen. Als der lebhafteste Taumel vorüber war, bestieg ich ein steil

liegendes, nahes Schloß, welches unbewohnt schien... Einige Zimmer unten

waren offen, und ich sah Familienbildnisse, die sich aus den Rahmen losgemacht

hatten und mit der Leinwand schwankten. Es war natürlich, daß nach der großen

Aufregung mir auch hier alles anders und wunderbarer erschien ... Ich habe mir

nie verschwiegen, daß die beiden schlaflosen Nächte, die Musik, die Aufregung

der Natur, alles dies zusammen jene große, übernatürliche Entzückung in mir

vorbereitete; der Mensch kann dergleichen vielleicht nur einmal erleben. Ein

alter Patriarch hätte an jener Stelle, wo mir diese Vision, wie ich sie nennen muß,

begegnete, einen Stein geweiht und zum Andenken gesetzt. Achtzig Jahre bin ich

nun alt, und der Rückblick auf diese Momente ist mir der wundervollste, rätsel-

hafteste meines Lebens geblieben. Diese unbeschreibliche persönliche Liebe, diese

fühlbare, überzeugende ist mir niemals wieder begegnet, und doch halte ich mich

für hochbeglückt, daß ich diesen Zustand erleben konnte. Noch mehrere Stunden

währte das entzückte Ergießen meiner Tränen; ich konnte mich in den gewöhn-

lichen Zustand des Lebens lange nicht wieder hineinfinden“

1

.

Es ist bekannt, daß dieses Erlebnis Tiecks Dichtung ähnlich

dauernd zur Romantik lenkte, wie das berühmte Graberlebnis

H a r d e n b e r g s es getan

2

.

Über Shakespeare sagte Tieck einmal: „Denn Shakespeare ist ein

Dichter, der seine Poesie durchaus erlebt und nicht gemacht hat,

und daher seine Gewalt und Wirkung“

3

.

Wenn Hardenberg (Novalis) sagte, die Liebe habe ihn gelehrt,

„tief ins Gemüt der weiten Welt zu schauen“; so spricht er in Wahr-

heit von der Eingebung, die ihm, durch die Liebe geweckt, das

Innere der Welt aufschloß. Ebenso ist es zu verstehen — und es wirft

unseres Erachtens zugleich ein Licht auf das obige Selbstbekenntnis

Tiecks —, wenn Novalis sagt: „Alle Poesie unterbricht den gewöhn-

lichen Zustand, ... um uns zu erneuern und so unser (höheres)

Lebensgefühl immer rege zu erhalten.“

Eine wertvolle Ergänzung zu jenem schriftlichen Bekenntnisse

Tiecks gibt sein Eckermann R u d o l f K ö p k e , welcher auf

Grund persönlicher Mitteilungen Tiecks berichtet:

(Wir beginnen mit dem Schauplatz im Wirtshause.) „Endlich ward es still, aber

er (Tieck) fand keinen Schlaf. Alle Lebensgeister pulsierten, die Sehnsucht nach

der Natur ließ ihm keine Ruhe. Im Morgengrauen wanderte er weiter. Noch

1

Ludwig Tieck, hrsg. von Hermann Kasack und Alfred Mohrhenn, Berlin

1943, S. 511 ff.

2

Vgl. Karl Justus Obenauer: Hölderlin, Novalis, Gesammelte Studien, Jena

1925.

3

Das Buch über Shakespeare, handschriftliche Aufzeichnungen von Ludwig

Tieck. Aus dem Nachlasse herausgegeben von Henry Lüdeke, Halle a. d. S. 1920,

S. 407 (= Neudrucke deutscher Literaturwerke, 1).