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B. E i n g e b u n g u n d g e s c h i c h t l i c h e W a h r h e i t
Wie steht es nun, so könnte man fragen, in dem Falle, wo die
Eingebung von ihrem geschichtlichen Gegenstande abweicht? Wie
kann der Dichter eine Eingebung von etwas haben, das es in der
von ihm dargestellten Weise gar nicht gab?
Eines der klarsten Beispiele solcher Art ist H e i n r i c h v o n
K l e i s t s „Prinz von Homburg“. Wir wissen in diesem Falle, wie
Kleist zu seinem Stoffe kam. In den „Memoires de Brandenbourg“
erzählt Friedrich der Große, der Große Kurfürst habe nach der
Schlacht von Fehrbellin geäußert, den Prinzen von Homburg sollte
man nach der Strenge des Gesetzes eigentlich vor ein Kriegsgericht
stellen, doch habe der Mann so tapfer zum Siege mitgewirkt, daß
man ihn nicht auf solche Weise behandeln könne.
Kleist greift diese Bemerkung auf und läßt den Prinzen (der
überdies älter und verheiratet ist) wirklich vor ein Kriegsgericht
gestellt und wegen Ungehorsams vor dem Feinde zu Tode ver-
urteilt werden.
Was geschieht hier im Geiste des Dichters? — Er entfaltet eine
dem Keime nach vorhandene, w a h r e Wirklichkeit!
Indem der Dichter das, was hätte geschehen können und sollen,
als wirklich geschehen nimmt, geht er auf das zurück, was die ver-
borgene Wahrheit eines wirklichen Geschehens ist. Kleist, der als
Krieger erzogen wurde, ging in seinem Innern der großen Frage
des unbedingten Gehorsams vor dem Feinde nach. Er wollte dabei
die Handlung des Prinzen rein aus seinem Inneren, aus dem Persön-
lichsten seiner Gesinnungs- und Gemütsart begreifen.
Und aus einer wunderbaren Eingebung, wie ein solches Inneres
beschaffen sei, schuf er die ganze Handlung in ihrer wesensgemäßen
Reinheit, einen strengen Fortgang des Geschehens und den nötigen
Umkreis von Menschen — in solcher inneren Wahrheit, wie sie
kaum übertroffen werden kann. (Daß dazu der Prinz besser jung
und unverheiratet war, leuchtet ein, es fördert nur die innere Wahr-
heit.)
Der Dichter sah vor sich ein Leben, das wie im Traume und in
traumhafter Leidenschaft geführt wurde. Weder bei der Übernahme
des kurfürstlichen Befehls, noch bei seinem befehlswidrigen Ein-
greifen in die Schlacht kann der Prinz als völlig erwacht genommen