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ebenso gegenwärtig vorkommt als die hohen Bäume in meinem Garten am Stern,

welche, doch noch jünger als diese poetische Konzeption, zu einer Höhe heran-

gewachsen sind, daß ein Wirkliches, welches man selbst verursachte, als ein

Wunderbares, Unglaubliches, nicht zu Erlebendes erscheint... Und so ist es denn

bis an die neueste Zeit herauf- und herangewachsen und erst in den letzten Tagen

wirklich abgeschlossen worden. Daher denn die Masse von Erfahrung und Refle-

xion, um einen Hauptpunkt versammelt, zu einem Kunstwerke anwachsen mußte,

welches ungeachtet seiner Einheit, dennoch schwer auf einmal zu übersehen ist“

1

.

Was wir den Vorrang der Eingebung vor der sinnlichen Erfah-

rung (welche der Eingebung nur als Stoff dient) nennen, spricht

Goethe in seiner Weise, rein vom Erleben ausgehend, ebenfalls deut-

lich aus!

Im Hinblicke auf seinen „Götz“ sagte er zu Eckermann, er habe damit die

Erfahrung vorweg genommen. „Erlebt und gesehen hatte ich bekanntlich der-

gleichen n i c h t . . ( a l s o schöpfte er aus der Eingebung!). - „Überhaupt hatte ich

nur Freude an der Darstellung meiner inneren Welt, ehe ich die äußere kannte“

2

.

(26. 2. 1824)

Goethe verrät damit, daß ihm die Eingebung, gleichgültig woran

entzündet, das Erste, das Um und Auf aller Kunst sei. Darum sagt

er auch bei anderer Gelegenheit:

„Beim ,Werther‘ und beim ,Faust“ mußte ich ... wieder in meinen eigenen

Busen greifen, denn das Überlieferte war nicht weit her“

3

. (16. 2. 1826.)

Eine heimliche Schilderung der Eingebung haben wir auch in der

bekannten Stelle aus „Faust“ II (Baccalaureusszene) vor uns, die wir

übrigens zugleich als eine Huldigung für den Genius Fichtes auf-

fassen dürfen:

„Ich aber, frei, wie mir’s im Geiste spricht,

Verfolge froh mein innerliches Licht

Und wandle rasch im eigensten Entzücken,

Das Helle vor mir, Finsternis im Rücken“

4

.

Eines der herrlichsten Worte, die je in menschlicher Sprache ge-

sprochen wurden! Sie sind nur als Schilderung der Eingebung zu

verstehen.

1

Briefwechsel zwischen Goethe und Knebel 1774-1832, Teil 1, Leipzig 1851,

S. 379 f.

2

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe . . . , S . 7 4 .

3

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren

seines Lebens 1823-1832, Leipzig 1913, S. 138.

4

Johann Wolfgang von Goethe: Faust, 1. und 2. Teil, Stuttgart, S. 226

(= Goethes Sämtliche Werke).