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war die Sonne nicht aufgegangen. Fahl und bleifarben, eine eben erglühende

Kugel, stieg sie am Rande des Himmels empor. Da durchbrach sie den Dunstkreis,

und plötzlich mit stechendem Glanze schossen die ersten Strahlen über die Ebene

daher. Sie trafen ihn unmittelbar; ihm war es, als hätten sie bis in sein tiefstes

Herz hineingeblitzt. In ihm zerriß es wie ein Schleier; eine innere Erleuchtung

war es, die ihn erfüllte; Himmel und Erde sah er in nie geahntem Glanze ver-

klärt. Ihm war, als träte Gott auf ihn zu, als schaue er in sein Angesicht. „Das ist

Gottes Erscheinung!“ so durchbebte es sein ganzes Wesen. Die Gewißheit Gottes,

die höchste Seligkeit, ein himmlischer Schmerz durchströmte ihn. Aus seinem

Herzen quoll das Gefühl unendlicher Gottesliebe. Ja, der ewige Gott liebte auch

ihn! Er brach in lautes Weinen aus; es waren Tränen der Seligkeit. ,Ich habe

keine Worte für diesen einzigen Zustand

1

, so erzählte der Greis Tieck voll tiefer

Bewegung im hohen Alter. ,Weder vorher noch nachher habe ich je Ähnliches

erlebt; es war die unmittelbarste Gewißheit Gottes, das Gefühl, mit ihm eins

zu sein; an meinem Herzen fühlte ich ihn. Es war eine Stätte der Offenbarung.

Ein Patriarch des Alten Testamentes würde hier einen Grabstein errichtet haben!

1

Nur einen Augenblick dauerte diese Entzückung, aber die Gewißheit, Gottes

Geist habe ihn durchschauert, blieb ihm und wie ein Nachhall seiner Seligkeit

erfüllte der reinste Friede sein Herz... Lange noch flossen seine Tränen, er

konnte ihrer nicht Meister werden.“

So Köpke, welcher den oben mitgeteilten Brief offenbar nicht kannte. Die Über-

einstimmungen seines Berichtes mit diesem Briefe sind daher umso wertvoller

für die Beurteilung seiner Ergänzungen, an deren genauester Wahrheit wir nicht

zweifeln können

1

.

Daß Eingebung (und dazu die Gestaltung) das Wesentliche der

Kunst ausmacht, dürfen wir wohl aus den folgenden Worten

G o e t h e s zu Eckermann (11. Juni 1825) herauslesen:

„Was ist da viel zu definieren! Lebendiges Gefühl der Zustände und Fähig-

keiten, es auszudrücken, macht den Poeten“

2

.

Die Eingebung ist es eben, welche den Dichter mit „lebendigem

Gefühl der Zustände“ durchdringt! Und der „Ausdruck“ geht auf

die Gestaltung.

Wie eine Eingebung lange im Dichter wirken kann und sich erst

langsam, wachstümlich rundet und ausgebiert, darüber äußert sich

Goethe deutlich in einem Briefe an Karl Ludwig von Knebel vom

14. November 1827:

„Es ist m i r . . . höchst wohltätig, wenn ich erfahre, daß meine ältesten und

edelsten Zeitgenossen sich mit Helena (1827 erschien gesondert der Helena-Auf-

zug aus Faust II) beschäftigen, da dieses Werk, ein Erzeugnis vieler Jahre, mir

1

Rudolf Anastasius Köpke: Ludwig Tieck, Erinnerungen aus dem Leben des

Dichters nach dessen mündlichen und schriftlichen Mitteilungen, Teil 1, Leipzig

1855, S. 143 f.

2

Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren

seines Lebens 1823-1832, Leipzig 1913, S. 126.