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werden. Erst als er, statt Ruhm und Dank zu ernten, vor ein Kriegs-
gericht gestellt und zum Tode verurteilt wird, erst als er von Todes-
furcht, welche er, der ungestüm Tapfere, bisher nicht kannte,
überwältigt wird, erst da erwacht er gänzlich zu sich selbst, findet
seine Festigkeit wieder und geht in heldischer Entschlossenheit dem
Tode entgegen.
Diesem Erwachen aus einem nachtwandlerischen Leben entspricht
nun wesensgemäß die Begnadigung, die Rückgewinnung des Le-
bens wie der Geliebten.
Nicht an geschichtlich genau wirklichen Begebenheiten entzün-
dete sich hier die Eingebung, aber was mehr ist, an dem r e i n e n
W e s e n d e r S a c h e .
Man kann sagen, der Dichter gab dieser Eingebung geschichtliche
Gestalt und zugleich ü b e r g e s c h i c h t l i c h e .
Ebenso läge es, wenn Shakespeares „Richard III.“ geschichtlich
tatsächlich nicht von jener Art wie der Held des Schauspiels gewe-
sen wäre (was mir übrigens nicht unwahrscheinlich ist): Shake-
speares Richard ist übergeschichtlich und bis in die letzte Faser
hinein wahr.
In allen solchen Fällen geschieht im Kunstwerke gerade das, was
der Dichter als den Wesenskern des Geschehens uns enthüllt!
Als eine ebenfalls übergeschichtliche Eingebung stellt sich Shake-
speares „Macbeth“ dar. Hier ist der Cäsarenwahnsinn in seiner
Wurzel gefaßt. Die Verführung durch die Hexen — gleichgültig
ob nur als innere Bilder des Tyrannensinnes oder handfest zu neh-
men (Shakespeare glaubte noch an Hexen!) —, das erste Verbrechen,
welches unzählige andere nach sich zieht, alles ist von allgemein-
gültiger Bedeutung.
Was Shakespeare an „Macbeth“ eingebungsvoll ersah, erfaßte
S c h i l l e r mit innerem Blicke an Napoleon! Aus dem Jahre
1804 ist folgendes Gedicht von ihm erhalten, dessen erste und
letzte Strophe wir hierher setzen (es trat erst 1835 ans Licht):
Auf den Kaiser Napoleon
Mag die Welt in törichtem Erstaunen
Knechtisch deiner Macht Verehrung weih’n,
Immer wirst du doch das Spiel der Launen
Einer blinden Zufallsgöttin sein.