IV.
Das zugleich Bewußte und Unbewußte des künstlerischen
Schaffens, begriffen aus der Eingebung
77
Von Goethe, Schiller, Tieck, Schelling wurde es immer wieder
ausgesprochen, daß das künstlerische Schaffen etwas Naturhaft-
Unbewußtes an sich habe und doch zugleich auch bewußt sei,
zugleich Trunkenheit und Besonnenheit sei. Am nachdrücklichsten
betonte das Schelling in verschiedenen Zusammenhängen seiner phi-
losophischen Kunstlehre
1
; aber am klarsten sprach es vielleicht
L u d w i g T i e c k aus:
„Die höchste Begeisterung, der wahre Enthusiasmus (des Künstlers) sind zu-
gleich die echte Besonnenheit und schaffende Klarheit. Muß der Dichter, der sein
Werk erschafft, nicht tiefer und inniger ergriffen sein als irgendeiner seiner gerühr-
ten Leser? Wenn er sich aber und seine dichterische Kraft bei dieser und jener
ergreifenden Stelle verzehren wollte, so würde er immer nur eine schülerhafte
Arbeit eines Anfängers hervorbringen können. Indem das Ganze mit allen seinen
Teilen allgegenwärtig in seiner Seele lebt, ist seine Begeisterung so groß und
über das Einzelne erhaben, daß sie jene göttliche Ruhe (der Besonnenheit) nicht
ausschließt, die, vom schaffenden Feuer durchdrungen, einzig und allein hervor-
bringen kann, da jene flatternde Unruhe, jene wilde, einseitige Erhitzung (der
naturhaft-bewußtlosen Leidenschaft) höchstens zerstören kann, indem sie sich
selbst vernichtet“
2
.
Was hier Tieck so lebenswahr auseinandersetzt, ist nicht, wie
Schelling und andere versuchten, aus der „produktiven Einbildungs-
kraft“ erklärbar. Denn was soll diese sein? Wie soll sie selbst erklärt
werden?; vielmehr einzig aus der Eingebung!
Die Eingebung ist die wahre und letzte Quelle des Kunstwerkes
und der Schönheit (die Rückverbundenheit der Eingebung dabei
vorausgesetzt).
Die Eingebung ist jene Urtat des menschlichen Geistes, in wel-
cher sich seine göttliche Artung erweist. Denn in ihr tritt — durch
die E r w e c k u n g der im Menschen schlummernden intelligi-
blen Welt — eine gewaltige E r w e i t e r u n g d e s m e n s c h -
l i c h e n S e l b s t e s ein; eine Erweiterung, welche die wachen
1
Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Uber das Verhältnis der bildenden
Künste zu der Natur, Berlin 1843; Vorlesungen über die Philosophie der Kunst;
Philosophie der Mythologie.
2
Ludwig Tieck, hrsg. von Hermann Kasack und Alfred Mohrhenn, Berlin
1943, S. 196.