102
Feilen); es geschieht alles halb wie im Traume. Nicht nur die Ein-
gebung, auch die Gestaltung hat etwas Traumwandlerisches an sich.
In der G e s t a l t u n g w i r d d a s G a n z e d e s G e i -
s t e s i n s e i n e r G l i e d e r u n g , s e i n e n i n n e r e n V e r -
w a n d t s c h a f t e n , E n t s p r e c h u n g e n , s i n n v o l l g e -
f o r d e r t e n E r g ä n z u n g e n a u f g e r u f e n ! Die Wahl-
anziehungen in diesem Ganzen von Entsprechungen und Ergänzun-
gen, sie werden in der geheimen Werkstatt des Geistes wie von
selbst wirksam! Auch die Gestaltung hat daher, wie die Eingebung,
etwas Verzücktes an sich!
Hieraus erkennen wir: Nicht nur aus der Einheit echter Ein-
gebung heraus erscheint das wahre Kunstwerk als „aus einem
Gusse“; vielmehr verlangt das auch das innere Gesetz der Gestal-
tung. Nach diesem Gesetze wird die Eingebung durch alle Gestal-
tungen hindurch festgehalten, so daß sie alle dasselbe Gepräge haben,
denselben S t i l erhalten! In gestaltlicher Hinsicht ist daher der
Stil als d u r c h g ä n g i g e E b e n b i l d l i c h k e i t — wie
ich das schon in der Kategorienlehre bezeichnete — zu erklären.
Betrachten wir eine andere Art von Beispielen, jene nämlich, wo
dieselbe Sache einmal von einem Denker und Philosophen begriff-
lich, das andere Mal von einem Dichter gestalthaft behandelt wird,
so bestätigt sich unser Ergebnis.
Wir wählen Schellings Naturphilosophie und Novalis’ Natur-
poesie.
S c h e l l i n g lehrt, daß die Natur Geist sei, Geist, der aber,
nachdem er durch die gesamte Natur, die organische wie die un-
organische hindurchgegangen ist, erst im Menschen zu sich kommt,
erst in ihm Selbstbewußtsein erlange.
N o v a l i s gestaltet diese Einsicht in dem Märchen von Hya-
zinth und Rosenblütchen. Hierin wird erzählt, wie Hyazinth sich
auf den Weg macht, um im Tempel der Isis die Natur zu schauen,
wie er endlich die Göttin findet, den Schleier hebt und — Rosen-
blütchen in seinen Armen hält: Es findet der Mensch in der Gottheit
und ihrer All-Natur sich selbst wieder! Zugleich gibt dieses Bild
auch F i c h t e s große Lehre von der „Selbstsetzung des Ich“
wieder, nach welcher das empirische Ich als Teil des „absoluten Ich“,
das ist Gottes, sich selbst als von höchster, von göttlicher Art
bestimmen und erkennen muß. Daher das bekannte Distichon des