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Novalis ebenso gut auf Fichte wie auf Schelling gemünzt aufgefaßt

werden kann:

Einem gelang es - er hob den Schleier der Göttin von Sais -

Aber was sah er? - er sah - Wunder des Wunders, sich selbst!

Noch eine andere Gestalt der Naturphilosophie Schellings finden

wir bei Novalis, und zwar in der Haupterzählung der „Lehrlinge

von Sais“, wo daraus ein fast dramatisches Geschehen wird. Der

Lehrer und dessen wissenschaftliche, einteilende Forschung wird

gerühmt. Doch wie um die g e s t a l t e n d e Geistestat neben

der begrifflich-wissenschaftlichen zu zeigen, sagt dort einer der

Lehrlinge (der wohl Novalis selbst ist):

„So wie dem Lehrer ist mir nie gewesen. Mich führt alles in mich selbst

zurück. Mich freuen die wunderlichen Haufen in den Sälen, allein mir ist, als

wären sie nur Bilder... Es ist, als sollten sie den Weg mir zeigen, wo in tiefem

Schlafe die Jungfrau steht, nach der mein Geist sich sehnt. Und wenn kein Sterb-

licher nach jener Inschrift dort den Schleier hebt, so müssen wir Unsterbliche zu

werden suchen (gemeint ist durch mystische Vertiefung in sich selbst auf den

eigenen unsterblichen Kern zurückgehen); wer ihn nicht heben will, ist kein

echter Lehrling zu Sais.“

Vergleichen wir rückblickend Schellings wissenschaftliche Gedan-

ken seiner Naturphilosophie mit der Dichtung des Novalis, so

finden wir: Was in jener begriffliche „Untersuchung“ ist, ist in die-

ser (dem Märchen) ein „Sich-auf-den-Weg-Machen“; was dort Er-

kenntnis als Ergebnis der Untersuchung, ist hier ein Schauen im

Tempel der Göttin der All-Natur; ferner, was in der begrifflichen

Selbsterforschung des Geistes (bei Fichte) „Selbstsetzung“ des abso-

luten Ich ist, ist hier, in der Dichtung, „Selbstanschauung“ (er sah —

Wunder des Wunders: sich selbst). Endlich, die „Haufen der Gegen-

stände in den Sälen“, welche dem Lehrer nur Stoff der einteilenden

Begriffsbildung sind, sind dem Dichter-Lehrling „Bilder, versam-

melt um ein göttlich Wunderbild“.

Mit einem Worte, was dort Begriff, ist hier Gestalt.

Ein Beispiel von gleicher Art bietet auch Goethes bekanntes

Gedicht „Bei Betrachtung von Schillers Schädel“. Goethe gibt keine

begriffliche Zergliederung und Kennzeichnung, sondern er spricht

den Schädel lebendig an: