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diese Abfolge die Grundlage für die beiden vielberedeten Erschei-

nungen der S p a n n u n g u n d S t e i g e r u n g sind, welche

im Drama, aber auch in aller erzählenden Kunst, ja in übertragener

Weise sogar in den bildenden Künsten, z. B. in der Historienmale-

rei, so wichtig ist.

Was ist nun diese Spannung? — Eine arteigene Entfaltungsgliede-

rung, das heißt aber, eine bestimmte Gestaltenfolge in der Zeit,

und zwar jene Gestaltenfolge, welche die Wacherhaltung der Anteil-

nahme des Zuschauers in sich schließt. Diese Wacherhaltung bis

zuletzt ist aber nur durch stete Steigerung möglich.

Was in der Redekunst die „captatio benevolentiae“ heißt, ist in

Wahrheit nicht eigentlich die Gewinnung des Wohlwollens des

Hörers, vielmehr die Erregung der Anteilnahme gleich anfangs.

Nicht nur für das Drama und die lebendige Rede aber gilt diese

Regel, sie gilt für jede erzählende Dichtung und für jede Kunst, die

in der Zeit sich entfaltet. So im Reiche der Töne insbesondere für

Sonate und Symphonie. Die Gliederung in vier Sätze, die sich im

Laufe der Zeit langsam als die herrschende herausbildete, dient wie

der Entfaltung des Eingebungsgehaltes, so auch der Wacherhaltung

der Anteilnahme, der Spannung und Steigerung.

In diesem Sinne kann man sagen, in jedem Schönen, welches in

der Zeit entfaltet wird, muß Wacherhaltung der Anteilnahme und,

um dies bis zuletzt zu erreichen, auch Steigerung sein. In den bilden-

den Künsten kann dies freilich nur in übertragenem Sinne gelten.

4.

S t u f e n b a u . Indem sich der Eingebungsgehalt eines Schö-

nen zuerst an einer geistigen Urgestalt und sodann an dessen Ent-

sprechungs- und Folgegestalten, ferner in einem Fortschreitungs-

gange der zeitlichen Entfaltung gestaltet, entsteht ein ganzes

Gebäude geistiger Gestalten, ein Gliederbau. In jedem Gliederbau

nun ist ein S t u f e n b a u enthalten, dergestalt, daß durchgehend

Uber- und Unterordnung herrscht; und zwar dem Sinngehalte der

Eingebung gemäß, der Personen, Handlungen und Begebenheiten,

wie sie eben in den Gestalten jeweils enthalten sind.

I n S h a k e s p e a r e s „Romeo und Julia“ z. B. ist alles enthalten, was die

Urgestalt vollständig ausgestaltet und auch den Stufenbau der Gestalten zur

Erscheinung bringt: Außer den beiden Liebenden selbst; der Zwist beider Häuser,

welcher die Liebe beider von Anbeginn bedroht und durch den auch alles gleich in

eine eigene Spannung kommt; die beiden Elternpaare werden dadurch zu den

obersten Entsprechungsgestalten der Hauptgestalten, Romeo und Julia; unter den