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gestaltung, welche nötig ist, um das Chaos zu meistern (Hexameter,

Fuge), ist noch Raum genug für Vielfalt und Veränderung im Sinne

von Fülle und Leere, Einatmen und Ausatmen; ähnlich wie sich

ja auch in der Natur die Ansammlung und Entleerung als Tag und

Nacht, Sommer und Winter im großen wie im kleinen nach uner-

schöpflichen Weisen äußert.

Ähnliches gilt für die Tanz- und Gebärdenkunst.

Sogar in den bildenden Künsten kommt mittelbar durch Dar-

stellung von Bewegung und Ruhe, ferner durch (räumliche) Größe

und Kleinheit der Gegenstände eine Art von zeitlicher Gliederung

zustande; wozu kommt, daß bei Riesengemälden, Riesenstand-

bildern und großen Bauten die Zeit des ruhigen Überblickens des

Ganzen auch unmittelbar (im Gegensatze zur Kleinkunst) in

Erscheinung tritt.

Überall in der Kunst ist das wesensgemäße Zeitmaß als Salz des

Lebens und als Daseinsbedingung zu spüren. Zeitmaß gibt Leben,

ja rechter Rhythmus vermag erstarrte Kräfte wieder zu neuem

Leben zu lösen und zu wecken!

Die Zeitgestalt muß überall aus der inneren Wesensgestalt der

Sache fließen, aus der g e i s t i g e n Gestalt. Einer schwermütigen,

grüblerischen, aber doch wechselnden Geistesgestalt wie Hamlet

werden meistens langsamere und wechselnde, einer wild überschäu-

menden, vital-leidenschaftlichen wie der des Mohren in der „Zau-

berflöte" werden dagegen durchaus ungestüme, überstürzte Zeit-

maße entsprechen.

Auch die Wesensart des Künstlers selbst drückt sich in seinen Zeit-

maßen, besonders den lyrischen, aus, wie man an einem Vergleiche

z. B. Goethes und Schillers ersehen kann. Und die größten Ton-

dichter der Geschichte, Bach und Mozart, von welchen man sagen

kann, daß sie gleichsam die Welt aus dem Überzeitlichen ins Zeit-

liche hereinbrechen spüren, was in Blitzesschnelle geschieht, haben

nicht zufällig die schnellsten Zeitmaße (denen auch die höchsten

Töne entsprechen). Die im Innersten verwandte Geistesart Bachs

und Mozarts erfordert demnach auch verwandte Zeitgestalt ihrer

Kunst.

Da dem Begriffe der Sache nach die Zeitgestalt erst aus der Ü b e r -

t r a g u n g der geistigen Gestalt in die zeitliche Ebene folgt, bildet

selbstverständlich die geistige Gestalt grundsätzlich das Prius, die