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Der Choliambe oder Skazen

1

Der Choliambe scheint ein Vers für Kunstrichter,

Die immerfort voll Naseweisheit mitsprechen

Und eins nur wissen sollten, daß sie nichts wissen.

Wo die Kritik hinkt, muß ja auch der Vers lahm sein.

Wer sein Gemüt labt am Gesang der Nachteulen

Und, wenn die Nachtigall beginnt, das Ohr zustopft,

Dem sollte man’s mit scharfer Dissonanz abhaun.

Nicht nur in Vers und Strophe ist Zeitgestalt, auch in der

P r o s a . Die klassische Dichtung verlangt hier ebenfalls wieder

Gedrungenheit und Strenge des Rhythmus, was z. B. in Schillers

Worten über den S t i l zum Ausdruck kommt:

„Jeden anderen Meister erkennt man an dem, was er ausspricht;

Was er weise verschweigt, zeigt mir den Meister des Stils“

2

.

Wesentlich ist es, festzuhalten, daß im Stil das Silbenmaß allein

nicht maßgebend ist, dieses vielmehr durch die B e t o n u n g e n

i m S a t z e überbaut wird; so daß man hier, wenn das Silben-

maß als einfache Zeitgestalt bezeichnet wird, von einer Zeitgestalt

höherer Ordnung sprechen kann. Sie ist es, die vornehmlich den

Stil bestimmt.

Schillers Regel der Gedrungenheit der Rhythmik des Stils kann

wesensgemäß nicht durchbrochen werden; jedoch verlangt die

ganze Denk- und Fühlart eines Kunstwerkes, gemäß dem Vorrange

des Geistigen, jeweils die ihr zugehörige Schreibart. Im allgemeinen

wird die Romantik nicht immer dieselben Wege gehen wie die

Klassik; sie wird weniger gedrungene Zeitmaße verlangen. Ein-

drucksvoll lehrt dies der herrliche Anfang von Eichendorffs „Tauge-

nichts“, dessen romantisches Schwelgen das Zeitmaß des Stils ergreift

und unser Herz von selbst mitreißt:

„Das Rad an meines Vaters Mühle brauste und rauschte schon wieder recht

lustig, der Schnee tröpfelte emsig vom Dache, die Sperlinge zwitscherten und

tummelten sich dazwischen; ich saß auf der Türschwelle und wischte mir den

Schlaf aus den Augen: mir war so recht wohl in dem warmen Sonnenscheine.

Da trat der Vater aus dem Hause;.. .“

3

1

August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke, Bd 2, S. 34.

2

Friedrich von Schiller: Sämtliche Werke, Mit Einleitungen von Karl Goedeke,

Bd 1, Stuttgart 1882, S. 279.

3

Joseph Freiherr von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts, Berlin

und Leipzig, S. 3 f.