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Verfolgt man die Entwicklung Goethes und Schillers, so ist es

lehrreich zu sehen, wie sie beide mehr und mehr von den strengen

Klopstock-Voßischen antiken Formen, die zum Teil schulmeister-

liche Erfindungen waren (die antiken Silbenmaße beruhen nämlich

auf Quantität, die deutschen vornehmlich auf Betonung, Akzent!),

zu f r e i e n R h y t h m e n übergingen, welche je nach dem

Sinne (dem Geistesgehalte) w e c h s e l n können, und die gleich-

sam voller aus den Heimlichkeiten der deutschen Sprache zu schöp-

fen vermögen! Das lehren unter anderem auch die unbenennbaren

Zeitmaße der Volkslieder, wie sie in „Des Knaben Wunderhorn“

oder im Anfange des „Faust“ (I. Teil) zu finden sind: Der Knittel-

vers hohen Stils ist vornehmlich das eigentlich deutsche Metrum!

In der Romantik ließ bekanntlich die Liebe zu den antiken For-

men auch in Silbenmaß, Vers und Strophenbau nach, das Tönende

und Musikalische trat in den Vordergrund, daher der R e i m

s i c h h ä u f t , d a g e g e n d a s S i l b e n m a ß s i c h l o k -

k e r t und die freien Zeitgestalten herrschen. Das geschah unter

dem Vortritte Goethes

1

.

Die Meinungen waren aber nicht ganz ungeteilt. Geistvoll ver-

teidigt der große Formenkenner A u g u s t W i l h e l m S c h l e -

g e l :

Das Sonett

2

Zwei Reime heiß’ ich viermal kehren wieder

Und stelle sie, geteilt, in gleiche Reihen,

Daß hier und dort zwei eingefaßt von zweien

Im Doppelchore schweben auf und nieder.

Dann schlingt des Gleichlauts Kette durch zwei Glieder

Sich freier wechselnd, jegliches von dreien.

In solcher Ordnung, solcher Zahl gedeihen

Die zartesten und stolzesten der Lieder.

Den werd’ ich nie mit meinen Zeilen kränzen,

Dem eitle Spielerei mein Wesen dünket

Und Eigensinn die künstlichen Gesetze.

Doch wem in mir geheimer Zauber winket,

Dem leih ich Hoheit, Füll’ in engen Grenzen

Und reines Ebenmaß der Gegensätze.

1

Eine noch heute lehrreiche Betrachtung über solche Fragen findet sich bei

Victor Hehn: Einiges über Goethes Vers, in: Goethe-Jahrbuch, herausgegeben von

Ludwig Geiger, Bd 6, Frankfurt a. M. 1885, S. 176 ff. (Neudruck in: Victor Hehn:

Gedanken über Goethe, Berlin 1909, S. 366 ff. und 240 ff.)

2

August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke, herausgegeben von Eduard

Böcking, Bd 1, Leipzig 1846, S. 304.