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Gestalten im Miteinander, nicht vereinzelt. Der einzelne Ton c, die
Farbe Gelb, die Tastbeschaffenheit Glatt ist für sich noch keine
Gestalt; erst im Zusammenhange mit anderen Tönen, Farben usw.,
erst im Miteinander liegt sinnliche Gestalt: In der Tonart, im Drei-
klange, im Intervalle, in der Kadenz; ferner im Farbkörper, im
Tastkosmos (wenn wir so sagen dürfen), sogar im Geschmacks-
kosmos gewinnt der einzelne Ton, die einzelne Farbe, das einzelne
Tastgefühl, der einzelne Geschmack seine gliedhafte und damit seine
gestaltliche Eigenschaft! (Freilich gilt hier der Begriff „gliedhaft“
nur in jenem eingeschränkten, mittelbaren Sinne, den die anorga-
nische Natur überhaupt zuläßt.)
E. B e i s p i e l e
Es ist leicht, hiefür überall Beispiele zu finden, die einleuchten.
Wir begnügen uns, auf die T o n g e s t a l t e n in der Dichtkunst
hinzuweisen.
In der Dichtkunst spielt nicht nur die Zeitgestalt durch Silben-
maß, Vers und Strophe, sondern auch die Tongestalt, wie übrigens
in der Poetik wohlbekannt, eine große Rolle. Tatsächlich fließen
zwar Zeit- und Sinnesgestalt ineinander und bilden eine nur schwer
trennbare Einheit, begrifflich sind aber beide zu scheiden.
In unserem jetzigen Zusammenhange kommt vor allem die Tongestalt in
Betracht. Ihre Bedeutung leuchtet besonders ein am Beispiele der bekannten Stelle
aus Schillers „Glocke“:
Von dem Dome,
Schwer und bang,
Tönt die Glocke
Grabgesang.
Nicht minder eindrucksvoll der Beginn des Prologs in Goethes „Faust“:
Die Sonne tönt nach alter Weise
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Einen anderen Ton als diesen feierlichen schlägt Tieck in den vielberufenen
Reimen an:
Liebe denkt in süßen Tönen,
Denn Gedanken stehn zu fern,
Nur in Tönen mag sie gern
Alles, was sie will, verschönen.
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