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V. Das Verhältnis der Gestaltungsebenen untereinander
A. Die V o r r ä n g e
Einmal erkannt, daß die aus der Eingebung geschöpfte geistige
Gestalt des Schönen mit ihrer Verwirklichung auf der zeitlichen,
räumlichen und sinnlich-stofflichen Ebene nicht einerlei sei, ergibt
sich von selbst die Frage nach dem Verhältnisse aller Gestaltungs-
ebenen untereinander.
Es ist unseres Erachtens ein bedeutsames Bewährungszeichen, daß
das ganzheitliche Verfahren und unser Begriff des Schönen imstande
sei, zu dieser Fragestellung vorzudringen, während die bisherigen
Ästhetiken hier über eine halbbewußte Empirie nicht hinauskamen.
Viele Fragen der Kunstphilosophie werden dadurch von selbst ge-
löst (nämlich alle, die mit Rhythmus, Zeichnung, Farbe, Ton usw.
Zusammenhängen) oder wenigstens auf eine feste Grundlage gestellt.
Vor allem ist ausdrücklich festzustellen: Das Verhältnis der gei-
stigen Eingebungsgrundlage des Schönen und das der Gestaltungs-
ebenen untereinander ist in keiner Weise — entgegen der herr-
schenden Vorstellungsweise — ein kausalmechanisches; vielmehr das
des begrifflichen Vorranges oder Primates.
Das folgt klar aus allem Bisherigen, das zu wiederholen hier über-
flüssig ist. (Den Begriff des Vorranges selbst begründeten wir an
einem anderen Orte
1
.) Daher stellen wir einfach die Vorrangsätze,
wie sie sich logisch ergeben, auf und erläutern sie kurz.
1. Die g e i s t i g e G e s t a l t h a t d e n V o r r a n g v o r
d e n G e s t a l t e n a l l e r a n d e r e n E b e n e n .
Denn die geistige Gestalt jedes Schönen ist unmittelbar auf die
Eingebung gegründet, in diesem Sinne also ursprünglich; die zeit-
räumlich-sinnlichen Gestalten dagegen sind als bloße Übertragun-
gen abgeleitet. — Nur wer die geistige Grundlage sinnlicher Ge-
stalten, zum Beispiel einer Melodie, eines Gemäldes, Bauwerkes
usw. leugnete, könnte diesen Vorrangsatz anfechten. Damit aber,
1
Vgl. meine Kategorienlehre, 3. Aufl., Graz 1969 [= Othmar Spann Gesamt-
ausgabe, Bd 9].