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maße für Dichtung, Tonkunst, Tanzkunst, Schauspiel- und Vor-
tragskunst, Gebärdenkunst, Redekunst allgemein anerkannt sei.
G e s c h i c h t l i c h gesehen, scheint uns der Vorrang der Zeit
in den Bewegungs- oder Zeitkünsten dadurch bezeugt, daß schon in
grauer Vergangenheit Dichtung, Musik und Tanz unmittelbar ver-
bunden waren und eine Einheit bildeten. Das Vermittelnde zwi-
schen diesen dreien war aber das, was ihnen gemeinsam war, das
Z e i t m a ß ! Als das allen Gemeinsame hatte es auch die führende
Stellung inne: den Vorrang. Daß diese drei Künste sich trennten,
mag welche Gründe immer haben (ob gerade sinkende künstlerische
Kraft ihre Besonderung bedingte, bleibe dahingestellt); begreiflich
aber, daß auch in den verselbständigten Künsten das Zeitmaß die
führende Stellung unter den Gestalten naturhafter Ebene behält.
B e g r i f f l i c h genommen ist der Vorrang der Zeit- vor
Raum- und Sinnesgestalt durch die Geistesnähe des Zeitlichen gege-
ben. Denn indem die Zeit sowohl dem Geiste wie der räumlich-
sinnlichen Verwirklichung des Kunstwerkes angehört, lenkt der
Geist durch sie die räumlich-sinnliche Gestaltung des Schönen. Das
zeigt sich zunächst deutlich in der Musik. Das leidenschaftliche
Dahinstürmen, das zweifelnde Stocken, die heitere Bewegtheit, die
langsam-getragene Trauer, jede Seelen- und Geisteshaltung findet
ihren ersten, unmittelbaren Ausdruck in den Zeitmaßen, den Noten-
werten der Töne. Auch hier spricht die Nichtumkehrbarkeit der
logischen Reihenfolge für den Vorrang der Zeit: Denkt man sich
von diesem Stürmen, Stocken, Bewegtsein, Trauern alle Bestimmt-
heit der Töne fort, so bleibt das Zeitmaß noch immer übrig; um-
gekehrt aber könnte man nicht die Zeit wegdenken und die Töne
allein übrig lassen. Die Töne ohne Zeitwert sind undenkbar, die
Zeitgestalt ist von ihnen also nicht wegdenkbar. Warum? — Weil
sie den Vorrang hat, die Grundlage bildet!
Das ist denn auch in der Musik ziemlich anerkannt (freilich nur,
soweit man ohne den Vorrangbegriff dergleichen behaupten kann).
So sagt R i c h a r d W a g n e r über das Dirigieren:
„Will man alles zusammenfassen, worauf es für die richtige Aufführung eines
Tonstückes von Seite des Dirigenten ankommt, so ist dies darin enthalten, daß er
immer das richtige Tempo angebe.“
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Angeführt von A. Ryger: Musik und Lebensweisheit, Wien 1933, S. 19.