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denke nur an den Gegensatz der einsilbigen zu den anderen, besonders den indo-
germanischen Sprachen!) Die Umsetzung der Geistesgestalt des Dichters in die
Zeitgestalt geschieht daher nicht, indem Worte und Akzente sozusagen je für sich
ausgewählt und benützt werden könnten; sondern sie muß aus dem Gesamt-
ganzen, aus dem „Geiste der Sprache“ heraus erfolgen! Davon weiß jeder Über-
setzer ein Lied zu singen.
Hier gelten folgende Vorränge:
Das S p r a c h g a n z e h a t d e n V o r r a n g v o r d e r S a t z g r u p p e ;
d i e S a t z g r u p p e v o r d e m S a t z e ; d e r S a t z v o r d e m W o r t e ,
d a s W o r t v o r d e n S i l b e n u n d L a u t e n .
Die Zeitgestalt verwirklicht sich aber erst im Silbenmaße und im Satzakzente;
sie muß also zugleich aus dem Ganzen der Sprache genommen werden.
In ähnlichem Sinne besteht in der Tonkunst der Vorrang der Themen und
Tonarten vor dem einzelnen Ton; und der Rhythmensysteme vor dem einzelnen
rhythmischen Motiv. Je nach der Gliedstellung in diesem Gesamtganzen, welches
man den M u s i k s t i l nennen kann, ändert sich jedes einzelne Zeitmaß und
jeder einzelne Tonwert.
Darum ist jedes Zeitmaß nur aus dem Gesamtganzen zu verstehen.
Wie steht es nun mit der Vorrangstellung der R a u m g e s t a l t
im Verhältnisse zum Sinnlich-Stofflichen?
Die Raumgestalt, das ist die räumliche Begrenzung, der räumliche
Umriß, eines stofflichen Gegenstandes ist es eigentlich, an die man
gemeiniglich denkt, wenn man von „Form“ oder „Gestalt“ spricht.
Wir wandten uns schon früher dagegen, indem wir die g e i s t i g e
Gestalt oder Form, z. B. eines Odysseus, Parzival, Siegfried als das
Urbild aller Arten von Gestalt erklärten.
Und gerade die Raumgestalt bestätigt dies, indem ihre nähere
Betrachtung zeigt, daß auch ihr etwas Geist-Ähnliches, etwas Im-
materielles, Vor- oder Überräumliches zugrunde liegt.
In unserer „Naturphilosophie“ begründeten wir diese Ansicht
näher
1
. Das Wahrste der Natur sind nicht die Stofflichkeiten
selbst; vielmehr sind es vorräumliche, ideenhafte W e s e n h e i -
t e n , z. B. die Quarzheit, die sich in den Naturdingen, z. B. den
Quarzkristallen, darstellen, verwirklichen. Sie tun dies, indem sie
sich v e r r ä u m l i c h e n , das heißt, aus einem vor- oder über-
räumlichen Zustand in den räumlichen übergehen. Und bei dieser
Verräumlichung fließen sie nicht etwa aus, wie Wasser aus einem
Kruge, werden sie nicht immer dünner und weniger (wie eben die-
ses Wasser), das heißt, formlos verschwimmend; sie nehmen sich
1
Naturphilosophie, 2. Aufl, Graz 1963 [= Othmar Spann Gesamtausgabe,
Bd 15].