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In unserer zweiflerischen, materialistischen Zeit wird nun gerade
das auf die größten Schwierigkeiten stoßen.
Und am wenigsten will die zeitgenössische Kunst davon etwas
wissen! Jeder Naturalismus, am meisten der unaufhörlich sich selbst
überbietende von heute, widerspricht dem Vorrange des Geistes.
Demgemäß treten seit langem in der Malerei die Farbenwirkungen,
in der Baukunst die Werkstoffbeschaffenheiten, in der Musik das
Zeitmaß und das Gewebe der Töne — statt dessen sogar das atonale
Chaos der Töne —, in der Dichtung die äußerlichen Schilderungen,
die Wort- und Reimtechnik in einer Weise in den Vordergrund, wie
es vergangene Zeiten nie geträumt hätten.
Das ist aber Kunst einer Verfallszeit!
In der echten Kunst aller Zeiten und Völker herrscht bedingungs-
los der Geistesgehalt der Eingebung! Bei den Alten ist diese fast
durchaus religiös-metaphysisch verankert.
Wir müssen Früheres wiederholen und abermals an B e i s p i e -
l e n zeigen, in welchem Maße das Schöne vom Vorrang des Geistes
beherrscht, ja ohne ihn schlechthin unmöglich ist.
Ein besonders lehrreiches und einleuchtendes Beispiel der alles durchdringenden
Rolle des Geistigen in der Gestaltung und Verwendung des Räumlich-Sinnlichen
in der Kunst scheint uns T i z i a n s Bild „Der Zinsgroschen“ zu bieten. Beide
Gestalten dort, Christus und der Pharisäer, sind recht naturgetreu gemalt - aber,
wie himmelweit entfernt von heutigem Naturalismus! Denn, was unterscheidet
beide Gestalten in Wahrheit? Nicht das bloße Äußere als solches, vielmehr der
geistige Gehalt! Er allein macht dieses Gemälde zu einem großen, unsterblichen
Werke des Schönen: Der knorrige, erdenhafte, verschmitzt-arglistige pharisäische
Finsterling steht neben der lichten Hoheit und unaussprechlichen Überlegenheit
Christi, unberührbar für die niedrige List. Daß die Frage: „Ist’s recht, daß man
dem Kaiser Zins gebe?“ und die Antwort: „Gebet dem Kaiser, was des Kaisers,
und Gott, was Gottes ist“ jedem Beschauer bekannt ist, erleichtert die Sinn-
deutung und läßt den geistig-sittlichen Gehalt des Bildes mühelos in den Vorder-
grund treten. Wer tiefer geht, spürt auch noch ein anderes: Die F r e i h e i t des
Geistes bei Christus, gleichsam wie in reinem Äther seines Inneren wohnend;
dagegen die naturhafte G e b u n d e n h e i t des Geistes beim Pharisäer, der
darum auch als nichtig erscheint.
Wir fragen: Was wäre dieses Gemälde ohne seinen Geistesgehalt?
Die naturgetreue Darstellung zweier Menschen ist ja nur der Ausgangspunkt
der Betrachtung, nur der erste Anfang des Schönen dabei! Dächten wir uns auch
diese geistige Bedeutung (daß es Menschen sind) weg, dann erschiene uns das
Bild wie einem Tiere: Wir unterschieden hier dunklere, dort hellere Farben-
flecken. Auch die Ruhe und Reinheit, von der uns die H a n d Christi spricht,
verglichen mit der knotigen Hand des Pharisäers spräche nicht zu uns. Kurz,
weder von dem überirdisch Glänzenden des einen, noch von dem unterirdisch
Dunklen des anderen hätten wir durch die bloßen Farben, ja auch nicht durch